Wenn Die Seele Verletzt Ist
der Kindheit gilt heute als Indikator für ein erhöhtes Risiko, im späteren Leben körperlich, psychisch oder psychosomatisch zu erkranken. Doch nicht alle Kinder, die traumatischen Lebenssituationen ausgesetzt waren, entwickeln Symptome. Es scheint Möglichkeiten zu geben, ein Trauma so zu verarbeiten, daß es so gut wie keine beeinträchtigenden Spuren hinterläßt. Warum gelingt es Menschen, ihr Trauma anzunehmen und hinter sich zu lassen, und aus welchem Grund gelingt es anderen nicht? Warum können manche das Geschehen durcharbeiten und ihren Lebensweg fortsetzen, während andere von Symptomen gequält werden?
Dank der Forschungsarbeit der Entwicklungspsychologin Emmy Werner haben wir Antworten auf diese Fragen. Emmy Werner ist eine der wenigen Forscherinnen, die der Entwicklungspsychologie zu dem Fundament verhalf, auf dem sie heute ruht. Sie erkannte, daß nur eine Längsschnittuntersuchung – eine Studie, in der Menschen über viele Jahre beobachtet und befragt werden – wirklich relevante Daten über deren Entwicklung liefern kann. Sie machte diese Studie, die einen Zeitraum von insgesamt vierzig Jahren umfaßte, zu ihrem Lebenswerk. So wissen wir durch ihre Arbeit heute, welche Bedingungen für eine gute Entwicklung nötig sind, aber auch wie man die Schwierigkeiten und Benachteiligungen durch eine traumatische Kindheit überwinden kann.
Sie pflegte an den Anfang ihrer Bücher stets ein Gedicht von Robert Louis Stevenson (1850 – 1894) zu stellen:
„Life ist not a matter
Of holding good cards,
but of playing
a poor hand well.“
Die deutsche Übersetzung dieses Gedichts könnte lauten:
„Im Leben geht es nicht darum,
ein gutes Blatt in der Hand zu halten,
sondern mit schlechten Karten gut zu spielen.“
Um Daten für ihr Projekt zu sammeln, suchte sich Emmy Werner eine Gesellschaftsform aus, die in ihrer Zusammensetzung über einen möglichst langen Zeitraum unverändert bleiben würde. Diese fand sie auf der Insel Kauai, die zum Hawaii-Archipel gehört. 1955 erfaßte sie alle 698 in diesem Jahr auf der Insel geborenen Kinder unter Berücksichtigung ihrer familiären Situation. Diese Menschen wurden im Laufe von vierzig Jahren immer wieder untersucht und später auch befragt, zum ersten Mal, wenn sie ein Jahr alt waren, dann mit 2, 10, 18, 32 und zuletzt mit 40 Jahren. Besonderes Augenmerk richtete Frau Werner auf diejenigen, die sozialen und familiären Risiken ausgesetzt waren. So gelang es ihr, die Faktoren zu erkennen, durch die es einigen Kindern gelang, trotz traumatischer Belastungen zu starken, selbstsicheren Persönlichkeiten heranzuwachsen. Die Schutzfaktoren, die Emmy Werner fand, sind:
• Die Persönlichkeit des Kindes: Je robuster, aktiver und aufgeschlossener das Kind von seinem Temperament her ist, um so besser kann es mit Streß umgehen und um so weniger ist es gefährdet. Diese Eigenschaften nennt man Resilienz des Kindes.
• Der familiäre Zusammenhalt, die Kompetenz der Mutter oder einer Ersatzperson: Kinder, die in ihren Familien von wenigstens einer Person bedingungslos angenommen werden, können Belastungen in der Regel besser verkraften als diejenigen, die in der Familie keinen solchen Rückhalt haben.
• Vertrauenspersonen außerhalb der Familie: Wenn die Traumatisierung in der Familie geschieht, können andere Erwachsene zum Beispiel Lehrer und Erzieher in der Schule, Trainer im Sportverein oder Pfarrer in Jugendgruppen eine stützende Funktion übernehmen.
Emmy Werner stellte fest, daß bereits ein Erwachsener, der das Kind bedingungslos akzeptiert und liebt, ihm entscheidend dabei hilft, daß sein Kindheitstrauma nicht zu einem Lebenstrauma werden muß. In ihrer Studie entwickeln sich ein Drittel der traumatisierten Kinder zu zufriedenen, bindungsfähigen Erwachsenen. Sie fand heraus, daß Traumata dann in der gewünschten Weise verarbeitet werden können, wenn ihnen genügend starke Ausgleichsfaktoren gegenüberstehen. Je mehr Risikofaktoren auftreten, desto mehr Schutzmaßnahmen sind als Gegengewicht nötig, um eine positive Entwicklung des Kindes zu gewährleisten.
Das heißt jedoch nicht, daß die familiären Erlebnisse nicht auch das Verhalten der Menschen prägt, die ihr Trauma gut bewältigt haben. Die seelischen Faktoren, die ein Kind dazu befähigen, sein Trauma zu verarbeiten, können sich in einem anderen Kontext und in einem anderen Lebensalter durchaus negativ auswirken. Ein Kind, das lernen mußte, seine
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