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Wenn Die Seele Verletzt Ist

Wenn Die Seele Verletzt Ist

Titel: Wenn Die Seele Verletzt Ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Sautter
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und zeigten deshalb alle Anzeichen der Deprivation. Nur diejenigen, die nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs in Adoptiv- bzw. Pflegefamilien aufgenommen wurden, konnten ihre Rückstände aufholen. Diejenigen, die weiterhin in Heimen leben mußten, konnten häufig die Schule und die Berufsausbildung nicht abschließen und hatten Schwierigkeiten, feste Beziehungen einzugehen oder Familien zu gründen (Hellbrügge, S. 45).
    Die Filme, die Spitz über die große Verzweiflung kleinster Kinder in Heimen drehte, sorgten für ein völlig neues Pflegekonzept. Ihm ist es zu verdanken, daß heute versucht wird, das Grundbedürfnis des Säuglings nach einer stabilen Bezugsperson zu berücksichtigen. Die SOS-Kinderdörfer, die durchdie private Initiative Hermann Gmeiners entstanden und heute auf der ganzen Welt verbreitet sind, verfolgen aus diesem Grund ein völlig anderes Konzept. In einem Kinderdorf gibt es mehrere „Familien“, die in eigenen Häusern zusammen leben. Eine Familie setzt sich aus einer Kinderdorfmutter mit bis zu acht Kindern zusammen. Die Kinder verlassen die Familie erst, wenn die Ausbildung oder der Beruf dies nötig machen. Nach einer Studie von Matejcek bezeichneten Kinder aus Kinderdörfern ihre Kinderdorfmutter überwiegend als die wichtigste Bezugsperson in ihrem Leben. Für 86% waren Ehe und Familie ein hoher Wert. 75% dieser Kinder konnte eine hohe soziale Kompetenz bescheinigt werden. Im Gegensatz dazu erreichten nur 15% der Heimkinder ähnliche Werte (Matejcek in Hellbrügge S. 72-82).
    Das Wissen darum, daß die enge Beziehung zu einer Person, am besten zur Mutter, genauso wichtig ist wie Ernährung, Sauberkeit und Kleidung, verdanken wir den Forschungen von Rene Spitz. Später in den 50er Jahren kam der englische Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby in seiner Bindungstheorie zum selben Schluß.
    Die wichtigste Zeit im Leben eines Kleinkindes ist wohl sein erstes Lebensjahr, denn nie lernt ein Mensch später so viel in so kurzer Zeitspanne. Das Gehirn macht entscheidende Wachstumsschritte, und was in diesem Jahr versäumt wird, kann zuweilen nie mehr aufgeholt werden. Säuglinge und Kleinkinder entwickeln in diesem ersten Jahr ihr Bindungsmuster. Von sich aus suchen sie die Nähe ihrer Mutter oder einer anderen konstanten Bezugsperson. Schon nach wenigen Monaten unterscheiden sie zwischen Fremden und Vertrauten, indem sie die Vertrauten anlächeln. Durch Weinen signalisieren sie ihre Bedürfnisse, und wenn diese befriedigt werden, lernen sie, daß sie sich auf die vertraute Person verlassen können. Sie haben einen, wie Bowlby es nennt, „sicheren Hafen“ gefunden.
    Wenn die Mutter oder eine andere vertraute Bezugsperson die Voraussetzungen dafür schafft, daß sich das Kind bindet, kann es Urvertrauen entwickeln. Dieses Urvertrauen ermöglicht ihm, ein zweites entscheidend wichtiges Bedürfnis zu leben: sich letztlich von seinen Eltern zu trennen, um sich als eigenständiges Wesen zu erleben. Wenn das Kind zum ersten Mal mit etwa anderthalb bis zwei Jahren „Ich!“ sagt und darin bestärkt wird, trautes sich immer mehr zu und beginnt, die Welt zu entdecken. Es lernt am Beispiel der Mutter, sich selbst zu trösten und Niederlagen selbstständig zu verarbeiten. Am Ende hat es Selbstvertrauen und das ist die Grundlage einer stabilen Persönlichkeit.
    Jedes Kind möchte sich – bei aller Zugehörigkeit – als Individuum zeigen dürfen; es möchte anders sein als seine Eltern und Geschwister und in seiner Einzigartigkeit geliebt werden. Kinder, die sowohl Zugehörigkeit wie Eigenständigkeit entwickeln dürfen, die sich in ein größeres Ganzes, die Familie, eingebettet fühlen und trotzdem individuelle Persönlichkeiten sein können, entwickeln jene Bindungsfähigkeit, die es ihnen im späteren Leben leicht macht, tragfähige Partnerschaften einzugehen.
    Der Kinderarzt John Bowlby entwickelte zusammen mit seiner Assistentin Mary Ainsworth eine Versuchsreihe, mit deren Hilfe sie erforschten, ob sich das Bindungsverhalten von Kleinkindern in der Bindungsfähigkeit der Erwachsenen abbilden würde. Die Kinder wurden erstmals mit zwölf bis achtzehn Monaten untersucht, danach immer wieder, bis sie erwachsen waren. Es zeigte sich, daß die Bindungserfahrungen des Kleinkindes die Beziehungen zu anderen Menschen bis hin zu den Partnerschaften des Erwachsenen prägten. Die erste Versuchsreihe beobachtet die Kleinkinder und ihre Mütter in einer sogenannten „Fremden Situation“, in

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