Wenn Die Seele Verletzt Ist
Bedürfnisse vor allem außerhalb seiner Familie zu befriedigen oder sich selbstständig zu versorgen, kann als Erwachsener in einer Beziehung durchaus Schwierigkeiten haben. Dazu ein Beispiel aus der Praxis:
Ein Klient kam, weil er das Klima in seiner Ehe verbessern wollte. Seine Frau werfe ihm vor, daß er ihr keinen Platz in seinem Leben einräume, und beklage sich über seine ständigen Alleingänge. Er selbst sei eigentlich nicht so unzufrieden. Die Kindheitsgeschichte des Mannes ist geprägt von einem täglich prügelnden Vater, vor dem der Junge große Angst hatte. Dem mißhandelnden Vater standen eine liebevolle Mutter und vor allem sein Sportverein gegenüber. Begeistert berichtete er von der Geborgenheit, die er dort zusammen mit seinen Kameraden erlebte. Symptome hat der Mann nicht, im Gegenteil verfügt er über die glückliche Eigenschaft, gut für sich sorgen zu können, seine Bedürfnisse zu erkennen und zu erfüllen.
Der Mann konnte auf alle von Emmy Werner aufgezählten Schutzfaktoren zurückgreifen: er ist von robustem Naturell, hat eine liebevolle Mutter und im Sportverein mit seinem Trainer und den Kameraden ein wohlwollendes Umfeld. Für sich allein kann er durchaus glücklich sein.
Die Resilienz, die ihm half, sein Kindheitstrauma ohne Symptome zu verarbeiten hindert ihn jetzt indes daran, die Nähe eines andern Menschen wirklich zuzulassen. So ist auch sein Beziehungsverhalten durch seine Kindheitserfahrungen geprägt.
Die grundlegenden Bedürfnisse eines Kindes
„Wenn Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln.
Wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel.“
Chinesisches Sprichwort
Anfang 1900 wurden die deutschen und die französischen Regierungen durch die Generäle ihrer Armeen aufgeschreckt, die die Sicherheit ihrer Länder durch den eklatanten Mangel an wehrfähigen jungen Männern gefährdet sahen. Immerhin lag die Säuglingssterblichkeit bei 25%, und so gingen den Staaten jährlich viele tausend potentielle Soldaten verloren. Um mehr Säuglinge durchzubringen, wurden die Gebärstationen und die Kinderabteilungen in den Krankenhäusern renoviert, die Hygiene entscheidend verbessert und die gesunde Ernährung und gute Pflege eines jeden Kindes sichergestellt. Die Sterblichkeit der Säuglinge ging tatsächlich rapide zurück, doch dies betraf vor allem die Kinder, die von ihren Müttern zu Hause aufgezogen wurden. Die Sterblichkeitsrate in Waisenhäusern blieb dagegen weiterhin sehr hoch.
Diesen Waisenkindern widmete sich Rene Spitz, der Zeitgenosse und Freund Sigmund Freuds; er untersuchte in den 30er Jahren das Verhalten von Säuglingen und Kleinkindern in den Waisenhäusern. Diese Kinder wurden von ihren Müttern in bestem gesundheitlichen und seelischen Zustand im Waisenhaus abgegeben. Kurz nach der Trennung wurden die Säuglinge unruhig und begannen zu schreien. Als niemand darauf reagierte, verstummtensie nach einer gewissen Zeit, doch nicht, wie man damals glaubte, weil sie sich beruhigt hätten – sie hatten resigniert. Durch den Verlust der Mutter fehlten diesen Kindern nicht nur Liebe, Körperkontakt und Ansprache; sie dämmerten in einer reizarmen Umgebung ohne Anregungen aus der Außenwelt vor sich hin. Heute wissen wir durch die moderne Hirnforschung, daß das Gehirn und die Sinnesorgane von Säuglingen Anregungen aus der Außenwelt brauchen, um sich entwickeln zu können. Fehlen diese Voraussetzungen, bilden sich bestimmte Nerven überhaupt nicht aus (siehe „Die neurophysiologischen Wirkungen von Trauma“). Damals konnte Spitz nur bezeugen, daß die Kleinen schwer depressiv und anfällig für Infektionen wurden. Sie verstarben oftmals an Krankheiten, die keineswegs zum Tod hätten führen müssen. Spitz nannte dieses Phänomen Mutterverlust-Syndrom oder Deprivation.
Deprivation tritt vor allem bei Heimkindern auf. Das schildert der Kindersoziologe Professor Hellbrügge, der Gelegenheit hatte, nach Kriegsende mit Kindern aus dem „Lebensborn“ zu arbeiten, einer Organisation der SS, die zum Ziel hatte, besonders schöne rein arische Menschen zu züchten, aus der sich die zukünftige Führungsschicht rekrutieren sollte. Die Kinder wurden kurz nach der Geburt von ihren Müttern getrennt und in Heimen untergebracht, um sicherzustellen, daß sie ganz im Sinne des Regimes aufwuchsen. Obwohl er sich bei den Eltern der Kinder um gesunde Menschen gehandelt hatte und die Heime besonders gut geführt waren, wuchsen die Kinder ohne feste Bezugspersonen auf
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