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Wenn Die Seele Verletzt Ist

Wenn Die Seele Verletzt Ist

Titel: Wenn Die Seele Verletzt Ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Sautter
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ihnen alles genommen werden kann, bleibt die Familie oft der einzige Ort der Zuflucht. Fast alle Klienten, die aus solchen Familien stammen, berichten von einer Verpflichtung zum Zusammenhalt. Die durch das Trauma hervorgerufene Angststörung der Eltern wird häufig rationalisiert und auf real existierende mögliche Gefahren wie den Straßenverkehr, Aids oder Gewaltverbrechen projiziert. Gegenmittel und sicherer Ort ist allein die Familie. Aus diesen Faktoren entstehen bei erwachsenen Kindern häufig große Skrupel, die Familie zu verlassen, um ein eigenes Leben zu führen. Häufig sind diese Zweifel von Angst begleitet.
    Die Juden der „zweiten und der dritten Generation“ haben darüber hinaus noch ein für sie fast unlösbares Problem. Obwohl ihre Eltern traumatisiert wurden, kannten sie „die Zeit davor“: stabile Familienverhältnisse, Glückund Zufriedenheit. Die Kinder kennen dieses „davor“ nicht; für sie gibt es nur die Zeit nach der Shoah. Ganz gleich, ob die Eltern von ihren Erlebnissen erzählten oder versuchten, ihre Kinder durch Schweigen zu schützen, können die Kinder die Auseinandersetzung mit dem Trauma ihrer Eltern nicht vermeiden. Sie erhielten den nicht ausgesprochenen Auftrag, die „Brücke zum Leben“ zu sein und die verlorene Familie der Eltern neu zu begründen.
    Viele Nachkommen leiden daran, den durch diesen Generationenvertrag auferlegten Auftrag zu erfüllen. Ein prominentes Beispiel für dieses Dilemma ist sicher Michel Friedmann, Nachkomme von Überlebenden der Konzentrationslager. Als selbst ernannter Mahner gegen den Antisemitismus mußte er ein moralisch einwandfreies und beispielhaftes Leben führen, um das Judentum im rechten Licht zu präsentieren. Seinen Schatten lebte er im Verborgenen, wobei er im Drogenrausch Frauen mißbrauchte, die zur Prostitution gezwungen worden waren.
    Wie sich das Trauma von Eltern auf ihre Kinder überträgt, wurde durch die Arbeit der New Yorker Therapeuten nach dem 11. September 2001 noch einmal besonders deutlich. Die Terroranschläge führten bei 93 000 Menschen zu posttraumatischen Belastungsstörungen, 110 000 Menschen litten an Depressionen, Tausende von Kindern verloren einen Elternteil oder wurden auf andere Art geschädigt. Im Behandlungszentrum Pier 94 am Hudson River, einer umgebauten ehemaligen Fabrikhalle, richtete der Kindertherapeut Professor Daniel S. Schechter mit seinen Mitarbeiterinnen eine Spielecke ein, wo sich die Kinder aufhalten konnten, während ihre Eltern betreut wurden. Malstifte und Spielzeug lagen bereit, und so konnten die Therapeuten beobachten, wie die Kinder mit den Ereignissen umgingen. Bald wurde klar, daß sich alle Kinder mit den Geschehnissen auseinandersetzten. Viele malten die brennenden Türme oder spielten die Anschläge nach. Genauso stark betroffen wie die Kinder, die alles selbst gesehen bzw. Eltern oder Familienmitglieder verloren hatten, waren jene, die alles nur im Fernsehen angeschaut oder aus den Erzählungen der Eltern gehört hatten. Die Eltern von Kleinkindern berichteten, daß ihre Babys plötzlich Schlafstörungen hätten und deutlich mehr schrien. Diese Kleinsten konnten nur auf die Traumatisierung ihrer Pflegepersonen reagieren, so daß die symbiotische Verbindung von Säuglingen mit ihren Müttern wieder einmal bewiesen wurde. Auch die älteren Kinder nahmen Anteil am Trauma ihrer Eltern, auch wenn diese sich bemüht hatten, ganz „normal“ weiterzuleben. So blieben die Kinder mit ihren Ängsten allein, da sie sich wiederum scheuten, ihre Eltern noch mehr zu belasten. Schechter berichtet von Kindern, die in ihren gemalten Bildern die Ängste der Eltern ausdrückten, über die jene nicht gesprochen hatten, was beweist, daß es nicht möglich ist, ein Trauma nicht zu kommunizieren.
    Je schwerer die Eltern traumatisiert waren, um so mehr versuchten andere Kinder, ihre eigenen Ängste herunterzuspielen, indem sie übertrieben fröhlich waren. Kinder, die vor den Anschlägen in psychotherapeutischer Behandlung gewesen waren, entwickelten schlagartig ihre alte Symptomatik wieder. Schechter schreibt abschließend:
    „Aus den Terroranschlägen des 11. September haben wir viele schmerzhafte Lektionen gelernt, und die wichtigsten davon wurden uns gerade von Säuglingen und Kleinkindern beigebracht: wie die Trennungsreaktionen dieser Kinder alle Rationalisierungen und Verleugnungen der Erwachsenen durchbrachen, wie sehr diese Kinder im Kontakt mit den inneren Vorgängen und Mitteilungen

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