Wenn Die Seele Verletzt Ist
Konflikt:
Wenn es die Mutter, die ihm die Fürsorge verweigert und es schlägt, als böse Mutter wahrnimmt, hat es gleichzeitig seine engste Bezugsperson verloren. Wenn es den Vater, der ihm durch die wiederholte sexualisierte Gewalt die Nächte zur Hölle macht, als Täter empfindet, verliert es damit seinen Papa. So befindet sich ein solches Kind in einer Double-bind-Situation, in einer Lage, in der es zwei Botschaften gleichzeitig erhält, die sich gegenseitig aufheben. Aus eigener Kraft kann kein Kind ein solches Dilemma lösen. Ein solches Kind hat in der Regel keine gute Selbstwahrnehmung. Es hat die negativen Attribute, die es von anderen zugeschrieben bekommt, als seine eigenen angenommen und gibt sich selbst die Schuld an Mißhandlungen und Mißbrauch. Die meisten traumatisierten Klienten sagen mir zu Anfang der Therapie: „Ich hätte mich ja wehren können!“ oder «Ich hätte braver sein können!“ Obwohl diese Überzeugung schwer auf demSelbstwert lastet, hat sie einen unschätzbaren Vorteil: Der Glaube des Kindes an seine Mittäterschaft ermöglicht ihm die Illusion, der Situation nicht vollkommen ausgeliefert gewesen zu sein. Die vermeintliche Mitschuld wiegt weniger schwer als das Eingeständnis des totalen Kontrollverlusts. Daraus erklärt sich, warum traumatisierte Klienten zuweilen an ihren Schuldphantasien festhalten.
In Fällen schwerer Gewalt hilft sich ein traumatisiertes Kind damit, daß es den „bösen“ Teil des mißhandelnden Menschen komplett abspaltet, so als gäbe es ihn überhaupt nicht. Es lernt dadurch, daß Menschen entweder gut oder böse sind. Die Möglichkeit, daß ein Mensch sowohl gute als auch böse Seiten hat, ist für das Traumaopfer nicht gegeben. Die gewalttätige Mutter, der gewalttätige Vater werden als nur gut wahrgenommen, zuweilen sogar idealisiert (siehe „Virusprogramme in der Seele“ und „Borderline“). Ein in einem solch traumatisierenden Kontext aufgewachsenes Kind überträgt das Konzept von Idealisierung und Verteufelung auf jeden anderen Menschen. Der Jugendliche und auch der Erwachsene haben größte Schwierigkeiten, einen anderen Menschen in seiner Komplexität wahrzunehmen. Sobald der andere nicht so reagiert wie das Traumaopfer idealerweise erwartet, wird das Gegenüber zum Feind. Der Wechsel geht so blitzschnell, daß dem anderen keine Zeit zum Reagieren bleibt. Die Beziehungen dieser Menschen sind meist höchst dramatisch und dauern nicht sehr lange.
Als Erwachsener reagiert ein in der Kindheit traumatisierter Mensch auf alle äußeren Reize so, wie er dies als Kind gelernt hat. Sein Körper ist daran gewöhnt, blitzschnell auf bedrohlich scheinende Situationen zu reagieren. Der aufgeregte, verängstigte Zustand, in dem sich das Kind jahrelang befand (siehe „Kindling-Phänomen“), bewirkt, daß sich der Erwachsene sehr schnell sehr heftig wehrt oder sich mit derselben Schnelligkeit zurückzieht. Seine emotionalen Reaktionen entsprechen etwa dem Alter, in dem er traumatisiert wurde. Der Umwelt erscheinen diese Reaktionen als unangemessen und völlig überzogen. Sie nennen den Betroffenen „kindisch“, womit sie in gewisser Weise zwar recht haben, den Traumatisierten aber noch mehr in die Enge treiben. Auf die Zurückweisung durch die Mitmenschen reagiert der Traumatisierte depressiv. Dieser Wechsel von Aggressivitätund Depressivität ist vom Umfeld schwer vorherzusehen, nicht zu verstehen und schlecht zu ertragen. So tragen traumatisierte Menschen tragischerweise durch ihr Verhalten selbst dazu bei, daß sie wiederum von anderen traumatisiert und ausgegrenzt werden.
In der Kindheit traumatisierte Menschen haben ganz grundsätzlich Probleme, anderen Menschen oder Situationen zu vertrauen. Deshalb versuchen sie, so viel wie möglich zu kontrollieren. In ihren Beziehungen herrscht ein unvorhersehbarer Wechsel von Dominanz und Abhängigkeit. Entweder setzen sie sich zuweilen rücksichtslos durch, dann wieder sind sie hilflos und abhängig. Unter diesen Umständen können sich vertrauensvolle Beziehungen nicht bilden, und so geraten sie immer weiter in die soziale Isolation. Schwierigkeiten bereitet auch der Mechanismus, sich bei Konfrontationen auf Verhaltensweisen zurückzuziehen, die dem Alter entsprechen, in dem das Kind traumatisiert wurde. Die von der Auseinandersetzung betroffenen Menschen erkennen die nicht angemessene Reaktion, weisen das Traumaopfer zurück und treiben es somit tiefer ins soziale Abseits.
Wenn Gefühle nicht oder
Weitere Kostenlose Bücher