Wenn die Wahrheit nicht ruht
zusammen. „So ein Mist!“ In aller Eile zog sie ihr Mobiltelefon aus der Jackentasche und beschleunigte ihren Schrit t. „ Geh ran, geh ran, geh ran !“
Doch Sebastian war zurzeit nicht erreichbar, wie ihm die nette Stimme der Voicemail mitteilte. Bei ihrem Auto angekommen wühlte sie derart ungeduldig in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, dass er ihr immer wieder entschlüpfte , bevor sie ihn ganz zu fassen bekam. Eilends öffnete sie die Tür, setzte sich hinters Steuer , und als sie es dann nicht einmal mehr fertig brachte, den Schlüssel auf Anhieb ins Zündschloss zu stecken, liess sie den Kopf aufs Lenkrad sinken und b egann in tiefen Zügen zu atmen.
„ Wenn du bereits zu spät bist, brauchst du dich auch nicht mehr zu beeilen. “ Es war, als s tünde ihr Grossvater direkt hinter ihr, um sicherzustellen, dass seine Weisheit auch ja in ihr Gedäch tnis zurückkehrte. „Du hast ja R echt. Ich weiss ja nicht einmal, weshalb ich mich so hetze. Es geht hier schliesslich nicht um Leben und Tod. Es geht nur um ein Gespräch, von dem ich sowieso nicht sehr viel brauchbare Resultate erwarte.“
Wie sehr sie sich in dieser Annahme irrte, sollte sie schon bald erfahren.
Selbstsicher trieb sie Ovalium aus dem Dorf hinaus, durch einige Kurven, immer nach dem rechts abgehenden , unbefestigten Weg Ausschau haltend. Tatsächlich fand sie einen Weg, der, wie von Sebastian beschrieben, neben einer verwitterten Holzbank in einen dichten Wald führte. Angesichts des Zustands des Weges und der Breite war sich Leonie allerdings nicht mehr so sicher, ob es sich um den gesuchten Pfad oder ei nen schlechten Scherz handelte. Obwohl sie sich wünschte, daran vorbeigefahren zu sein, was auch beinahe geschehen wäre, bog sie vorsichtig in den Weg ein.
Der Schnee zeigte sich hier in einem schmutzigen Braun , durchzogen von Reifenspuren, die ins weissgraue Nirgendwo führten. An den Hügel geschmiegt schlängelte sich die Strasse schmal zwischen dichten Baumreihen hindurch. Sollte sie vom Weg abkommen, war mit dieser Menge an Stämmen zumindest eine unkontrollierte Fahrt den Hügel hinunter beinahe ausgeschlossen. Ovalium würde sein hübsches Chassis nämlich vorher um einen Baum wickeln. Also rollte Leonie Meter für Meter weiter.
Immer wieder geriet sie aus der Spur oder die Räder verloren den Halt , während sie ab und an wiederum beinahe stecken blieb, weil der Cinquecento aufgrund der kleinen Räder so nahe am Boden war, dass er den zwischen den Fahrspuren aufgehäuften Schnee kaum zu bewältigen vermochte. Die Erfindung des ABS heiligsprechend wagte sich Leonie dennoch weiter vor.
Sie hatte das Gefü hl schon ewig unterwegs zu sein - was nicht zuletzt mit ihr er Geschwindigkeit zusammenhing -, als der Weg auf eine Art P latz mündete. Anhand der Reifen spuren, die kreuz und q uer über den Platz verteilt waren, vermutete Leonie, dass dieser Ort für Wende- und Ausweichmanöver bestimmt war und augenschei nlich rege genutzt wurde.
Sie dachte kurz nach, wie lange es wohl noch bis zum Haus dauern würde und ob es Sinn machen würde , das Auto hier stehen zu lassen und den Rest zu Fuss zu gehen. Nach kurzem Abwägen en tschied sie sich aber doch, die verbleibende Strecke auch noch zu fahren, weshalb sie den Wendeplatz überquerte und mit wachsender Unruhe feststellte, dass sich der Weg nicht nur wieder schmälerte , sondern dass sie ihn auch immer schlechter sah. Angesichts der einsetzenden Dämmerung schaltete sie die Scheinwerfer ein und t astete nach ihrem Mobiltelefon.
A ls sie etwas unter ihren Fingern spürte, wagte sie einen kurz en Blick auf den Beifahrersitz , was sie sogleich bereute. Denn als sie wieder aufsah, stand jemand auf dem Weg, direkt vor ihr. Regungslos . Und er starrte sie an. Sie konnte zwar nur schemenhaft dunkle Umrisse erkennen , aber sie fühlte deutlich , wie seine Augen auf ihr ruhten . Es waren nur Sekunde n bruchteile, aber der Moment schien ewig anzudauern. Erschrocken trat Leonie mit aller Kraft die Bremse durch. Der Wagen verlor den Halt und geriet ins Schleudern. Trotz Gegenlenkens rutschte er auf den Abhang zu. Aber noch bevor er in die Bäume krachen konnte, grub er sich tief in den umliegenden Schnee und kam so zum Stillstand .
Die Scheinwerfer des Cinquecento tauchten die weissen Massen in ein bläuliches Licht . Einen Moment lang blieb Leonie einfach sitzen und starrte auf den Schnee. Sie fürchtete sich davor, sich zu bewegen, denn sie wusste nicht, was sie erwarten würde.
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