Wenn die Wahrheit nicht ruht
Gemeindepräsidenten der Jahre 1986 bis etwa ’ 88 gesucht hat. Möglicherweise steht sie schon bald vor deiner Tür . Ich wollte nur, dass du das weiss t.“
„Hat sie gesagt, weshalb sie mich sucht?“
„Ich habe zwar gefragt, sie hat mir aber eine definitiv erfundene Geschichte vorgesetzt, was mich stutzig gemacht hat. “
„Ich werde tun, was ich tun muss. Danke für deinen Anruf.“ Dann war wieder nur das Freizeichen zu hören.
Die Frau wollte auflegen und stellte leise fluchend fest, da s s ihr Hemdärmel bedrohlich nahe über der Mayon naise ihres Sandwichs schwebte, weshalb sie den Teller wegzog. Dieser gab so den Blick auf ein silbernes Schild frei, auf dem mit schwarzen Lettern d er Name der Frau eingeprägt war: Marie-Louise Schlatter-Zumbrunn.
In Gedanken daran, was Sören ihr über diese Petra erzählt hatte, die nicht bestellen musste, trat Leonie als nächstes durch die Tür der Bäckerei unterhalb des Postplatzes , die mit dem K lingeln einer kleinen am Türrahmen befestigten Glocke die Ankunft des neuen Kunden ankündigte. Sogleich erschien hinter dem Verkaufstresen eine Dame mittleren Alters , um die Hüfte eine blendend weisse, frisch gestärkte Schürze gebunden. In freudiger Erwartung lächelte die Dame Leonie an. Diese zögerte noch einen Augenblick in ebenso freudiger Erwartung, doch obwohl Leonie schon mehrfach bei dieser Dame eingekauft hatte, machte jene keine Anstalten ihr das übliche Walliser Nussbrot aus dem Regal zu reichen. Seufzend gab Leonie also nach und brach das erwartungsvolle Schweigen als erste.
„Das Nussbrot , bitte.“
Das Lächeln der Verkäuferin wurde noch etwas breiter und die Lippen schienen schliesslich fast ihre Ohren zu erreichen, als sie fragte: „Darf es sonst noch etwas sein?“
„Nein , danke, das ist alles.“ Leonie bezahlte, nahm ihr Brot entgegen und trat den Rückzug an, als eine weitere Dame die Bäckerei betrat . Sie schien sehr alt, das Gesicht von Falten zerfurcht, das Haar war silbergrau und zu einem Knoten geschlungen. Ihre Haltung war gebeugt und das linke Bein schien steif, denn sie zog es bei jedem Schritt nach.
Leonie hielt ihr höflich die Tür auf. Um für die Freundlichkeit zu danken, hielt die Dame kurz inne. Doch als sie den Kopf hob und Leonies Gesicht erblickte, kam kein Laut über ihre Lippen. Entgegen der scheinbaren Zerbrechlichkeit der Frau waren ihre blauen Augen hellwach und aufmerksam. Dann huschte ihr ein Ausdruck über das Gesicht, der Leonie frösteln liess. Und schliesslich sprach sie doch : „ Sei gewarnt , Mädchen, du bewegst dich auf dünnem Eis. S ieh zu, dass du nicht einbrichst.“
Sie hatte es nur geflüstert, aber mit einem Nachdruck, der Leonie frösteln liess. Da sie nicht wusste, wie sie darauf reagieren sollte und das dringende Bedürfnis verspürte, schnell zu verschwinden, nickte sie nur kurz und huschte dann an der Alten vorbei durch die Tür ins Freie.
Die ersten Meter erlaubte sie sich keinen anderen Gedanken als Laufen, Laufen, L aufen. Erst, als sie um die nächste Ecke gebogen war, blieb sie stehen und dachte nach. Was war hier eigentlich los? Entweder spinnen in diesem Dorf alle , oder sie hatte irgendwie irgendetwas in Gang gebracht, das vielleicht lieber bis in alle Ewigkeit geruht hätte. Möglicherweise hatte die alte Frau aber einfach auch etwas gegen Menschen, die keine alteingesess e nen Einwohner des Dorfes waren.
Während sie noch darüber nachgrübelte, machte sie sich auf den Weg zum Chalet ‚Abendsonne’. Bei dem stattlichen , beinahe schwarzen Holzbau angekommen, suchte sie vergebens nach einer Klingel und fand sich schliesslich mit dem schweren Türklopfer ab.
Drei Mal betätigte sie ihn, dennoch öffnete niemand die Tür. Unentschlossen blieb sie stehen und überlegte, was als N ächstes zu tun war. Bis sie plötzlich im Augenwinkel eine Bewegung wahrzunehmen glaubte.
Ihr Kopf fuhr hoch und ihr Blick blieb an einem der Fenster haften, hinter dem ein weisser Vorhang mit darauf gestickten Kühen hing. Sie hätte schwören können, dass sich der Vorhang bewegt hatte, doch als sie nun hinsah, zeigte sich alles regungslos. Kopfschüttelnd stieg Leonie die steinerne Treppe vor der Haustür hinunter und trat zurück auf die Strasse. Obwohl sie sich selbst Anzeichen für eine Paranoia attestierte, beschloss sie, tags darauf erneut ihr Glück zu versuchen.
Durch den Glockenschlag der Kirchenuhr aus ihren Grübeleien gerissen, schaute sie auf die grosse Uhr und zuckte
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