Wenn Die Wahrheit Stirbt
Stifte gegeben, die wir im Haus haben, aber die will sie alle nicht. Ich kann das arme Ding nicht trösten, und ich mache mir einfach Sorgen.«
Gemma rief sich die Gegenstände vor Augen, die sie in Sandras Atelier gesehen hatte, und sie glaubte sich an einen Becher mit farbigen Zeichenstiften auf Sandras Arbeitstisch zu erinnern. »Ich weiß vielleicht, was sie meint. Die Stifte haben ihrer Mutter gehört.Vielleicht hat sie Charlotte damit malen lassen.«
»Könntest du sie ihr nicht irgendwie besorgen? Und sie braucht auch noch mehr Sachen zum Anziehen. Ich würde ihr so gerne etwas kaufen, und ich habe ja auch das Unterhaltsgeld vom Sozialamt, aber es wäre vielleicht besser für sie, wenn sie ihre eigenen Sachen hätte. Etwas Vertrautes, verstehst du?«
»Ich seh mal, was sich machen lässt, und ruf dich dann zurück.«
Das Haus in der Fournier Street war nicht mehr offiziell als Tatort eingestuft - hatte das Ermittlerteam die Schlüssel an Naz Maliks Nachlassverwalterin, seine Partnerin Louise Phillips, übergeben? Und wenn ja, würde Phillips es Gemma gestatten, ins Haus zu gehen und einige Sachen für Charlotte zu holen?
Sie kramte das kleine Notizbuch hervor, das sie immer in der Handtasche hatte, und blätterte zurück, bis sie die Nummer von Naz Maliks und Louise Phillips’ Kanzlei fand, die sie sich an jenem ersten Abend notiert hatte. Ein Blick auf ihre Uhr sagte ihr, dass es noch nicht fünf war - wenn sie Glück hätte, wäre Phillips noch im Büro.
Sie tippte die Nummer ein. Beim ersten Läuten meldete sich eine Frauenstimme mit einem schroffen: »Malik und Phillips.«
»Könnte ich bitte mit Louise Phillips sprechen?«, fragte Gemma.
»Am Apparat.« Die Stimme klang immer noch sehr forsch. »Unsere Sekretärin hat schon Feierabend. Was kann ich für Sie tun?«
Gemma erklärte, wer sie war und was sie wollte. »Ich wollte fragen, ob wir uns vielleicht im Haus treffen könnten. Ich brauche natürlich Ihre Zustimmung, ehe ich irgendetwas für Charlotte mitnehme.«
Es trat eine so lange Pause ein, dass Gemma schon glaubte, Phillips werde ihr Ansinnen rundweg abschlagen.
Dann antwortete Louise Phillips, und sie tat es so stockend, dass es Gemma schien, als habe der brüske Ton nur ihre Erschöpfung kaschiert - oder ihren Kummer. »Ich war noch nicht wieder im Haus. Ich habe - Ich konnte einfach nicht - Warum kommen Sie nicht einfach zu mir in die Wohnung, so etwa in einer Stunde? Dann gebe ich Ihnen die Schlüssel. Sie können sie mir einfach in den Briefkasten werfen, wenn Sie fertig sind. Und damit alles seine Richtigkeit hat, können Sie mir eine Aufstellung der Sachen machen, die Sie mitnehmen, aber ich gehe einfach mal davon aus, dass man Ihnen vertrauen kann. Das hoffe ich jedenfalls sehr« - sie ließ ein heiseres Lachen hören -, »denn so, wie’s im Moment aussieht, könnten Sie sich die komplette Einrichtung unter den Nagel reißen, ohne dass ich es überhaupt merken würde.«
Phillips gab Gemma die Adresse und fügte hinzu: »Sie werden es leicht finden - es ist ganz in der Nähe der Columbia Road.«
20
Das Haus hat also eine Mission, und es glaubt, dass der natürliche Zustand menschlicher Intelligenz nicht flach oder rechteckig ist, wie ein Gemälde, sondern dass sie sich wie dieser Raum rings um uns herum ausdehnt. Das Haus setzt seinen ganzen raffinierten Charme ein, um sicherzustellen, dass jeder Besucher diesen Eindruck mitnimmt, wenn er geht. Vielleicht hat es bei Ihnen auch schon zu wirken begonnen.
Dennis Severs, 18 Folgate Street
Die Sonne war noch längst nicht untergegangen, doch die Neonbeleuchtung der Curryrestaurants in der Brick Lane brannte schon.Viele der Lokale warben mit klimatisierten Räumen, aber die Türen standen offen, und der verlockende Duft indischer Gewürze mischte sich mit dem Staub und den Benzindünsten der Straße.
Vor einigen der weniger florierenden Etablissements standen Kundenfänger, die mit ihren einstudierten Sprüchen Touristen anzulocken versuchten, doch Kincaid hatte ernste Zweifel, ob die Restaurants jemals die Rückerstattungen gewährten, die sie so vollmundig versprachen.
Ahmed Azads Lokal jedoch fiel mit seiner eleganten, modernen Front sofort ins Auge. Die geschlossene Eingangstür war ein Hinweis auf eine tatsächlich funktionierende Klimaanlage, und die Inneneinrichtung, soweit Kincaid sie bei einem
Blick durchs Fenster erkennen konnte, war minimalistisch, mit Ziegelwänden, Tischen aus glänzend poliertem Holz und
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