Wenn Die Wahrheit Stirbt
Er hatte sein Jackett ausgezogen, und die Lesebrille saß auf seiner Nasenspitze. Als Kincaid eintrat, nahm er sie ab und rieb sich die Augen. »Sie haben ein ganz schönes Loch in meine Personaldecke gerissen, wissen Sie das? Und was ist das übrigens für eine Geschichte mit diesem Transporter?«
»Das hat sich ja schnell herumgesprochen.« Kincaid blieb stehen.
»Ich habe meine Mittel und Wege. Also, was wollen Sie eigentlich mit diesem Transporter machen, wenn Sie ihn finden? Sie können nicht aufgrund unbestätigter Informationen einer unidentifizierten Quelle eine Durchsuchung anordnen. Und selbst wenn Sie es könnten, würde das Drogendezernat Ihnen die Hölle heiß machen.«
»Es gibt immer noch Verkehrskontrollen«, erwiderte Kincaid. Er hatte Weller ins Vertrauen ziehen müssen, doch sie hatten nicht vor, die gesamte Truppe über die Drogenermittlung zu unterrichten. »Aber darüber können wir uns noch den Kopf zerbrechen, wenn es so weit ist.« Nun hockte er sich doch auf die Armlehne des Besuchersessels und blickte sich suchend nach einem Platz für seinen Styroporbecher mit der ungenießbaren Flüssigkeit um. Schließlich setzte er ihn vorsichtig auf eine freie Stelle am Rand von Wellers Schreibtisch. »Wussten Sie, dass Ahmed Azad Lucas Ritchie kennt?«
»Den Ritchie mit dem mysteriösen Club?« Weller schien überrascht.
»Wie es aussieht, ist Azad sogar Mitglied im Club. Und Ritchie hatte eine Angestellte, die verschwunden ist, genau wie Azads Neffe. Ich habe Cullen auf die Suche nach ihr angesetzt.«
»Wer ist sie?«
»Eine junge Frau namens Kylie Watters.«
Weller zuckte mit den Achseln. »Nie gehört. Aber finden Sie nicht, dass Sie da mit Gewalt nach Verbindungen suchen?«
»Mag sein.« Kincaid zupfte die Bügelfalte seiner Hose zurecht. »Aber vielleicht hatte Azad ja auch die Mittel und Möglichkeiten, Ritchie zu helfen, als der eine unbequeme Angestellte loswerden wollte. Oder Ritchie hatte die Mittel, Azad bei der Beseitigung eines mehr als unbequemen Neffen zu helfen.«
»Was hat das alles mit Naz Malik oder Sandra Gilles zu tun?«, fragte Weller. Zu Kincaids Erleichterung fragte er nicht, wie dieser an die Information gekommen war.
»Ich weiß es nicht - ich weiß nur, dass es offenbar irgendeine Verbindung zwischen ihnen allen gibt. Aber ich denke, ich würde mich gern noch einmal mit Mr. Azad unterhalten.«
»Ich komme mit.« Weller legte seine Lesebrille auf einen Stapel Berichte. Er schien ganz froh um einen Vorwand, seinem Büro zu entfliehen.
Doch Kincaid sprang rasch auf und nahm seinen Becher wieder in die Hand. »Ich würde lieber allein gehen, wenn Sie nichts dagegen haben. Nur auf einen freundlichen Plausch, diesmal ohne die Anwältin. Ich dachte, ich erwische ihn vielleicht in seinem Restaurant. Vielleicht genehmige ich mir sogar ein Curry.«
»Na, dann viel Glück.« Weller lehnte sich in seinem Sessel zurück, und seine Miene ließ deutlich erkennen, dass es ihm gar nicht schmeckte, wie Kincaid gerade den Vorgesetzten herausgekehrt hatte. »Und vorher können Sie noch die Plörre da im Mülleimer entsorgen.«
Am Donnerstag legte Gemma sich mächtig ins Zeug und machte sich wild entschlossen daran, in ihrem eigenen Bereich für Ordnung zu sorgen. Und das nicht nur, weil sie mit ihrer Arbeit im Rückstand war - sie hatte auch ein schlechtes Gewissen, weil sie am Tag zuvor die Gutmütigkeit ihres Chefs so schamlos ausgenutzt hatte. Dennoch fand sie inzwischen, dass die Dinge, die sie über Gail Gilles in Erfahrung gebracht hatte, die Vernachlässigung ihrer Pflichten rechtfertigten - auch wenn sie noch nicht recht wusste, was sie mit den Informationen anfangen sollte. Vielleicht würde der Hinweis auf Gails Möbel-Großeinkauf wenigstens Kincaids Ermittlungen voranbringen.
Bis zum späten Nachmittag hatte sie ihren Rückstand schon fast ganz aufgeholt. Sie schlug gerade den letzten Fallbericht aus ihrem Eingangskorb auf, als Betty Howard sie auf dem Handy anrief.
Sofort griff sie nach dem Telefon und meldete sich. »Hallo, Betty. Ist alles in Ordnung?« Ihre erste Befürchtung war, dass Betty wieder einen Anruf von der Betreuerin vom Jugendamt bekommen hatte.
»Oh, es ist alles in Ordnung, Gemma«, sagte Betty leise. Im Hintergrund konnte Gemma die Musik eines Kinderprogramms
im Fernsehen hören. »Ich rufe nur an, weil die kleine Charlotte mich ständig nach ihren Entenstiften fragt, und ich weiß einfach nicht, was sie meint. Ich habe ihr sämtliche
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