Wenn Die Wahrheit Stirbt
jungen Trendsetter aus dem Nobelviertel Chelsea. Gemma hatte sich erboten, Hazel zu dirigieren, und zog ihren Mini-Straßenatlas aus der Handtasche.
»Ein Golf gilt nur dann als Sloanie-Auto, wenn er neu ist und ein Geschenk von spendablen Eltern, die nicht wollen, dass ihr Nachwuchs zu elitär wirkt«, sagte Hazel. »Und der hier hat mit Sicherheit schon bessere Zeiten gesehen.« Sie tätschelte das Armaturenbrett, als wollte sie das Auto trösten. »Ich hatte eigentlich nicht vor, ihn mitzunehmen, aber dann habe ich gemerkt, wie umständlich es wäre, Holly von Battersea nach Islington und zurück zu bringen, zumal wir es in Battersea ziemlich weit zur nächsten U-Bahn-Station haben.«
Sie hatten die Battersea Bridge überquert und fuhren nun am Ufer der Themse in östlicher Richtung weiter. Gemma warf einen flüchtigen Blick in Richtung Cheyne Walk und schaute
dann weg. Ihr London schien mehr und mehr von Geistern bevölkert, und manchen von ihnen mochte sie nicht zu viel Raum gewähren.
»Erzähl mir, was du von diesem Freund von Tim weißt«, forderte sie Hazel auf. Tim hatte angerufen, als Hazel gerade erklärt hatte, es sei jetzt an der Zeit, eine Flasche Wein aufzumachen - offenbar ein Fall von gelungenem Timing.
Hazel hatte ihn angehört, und nachdem sie aufgelegt hatte, stellte sie die Flasche in den Kühlschrank zurück und runzelte die Stirn. »Tim will, dass wir uns in einem Haus in der Nähe der Brick Lane mit ihm treffen«, erläuterte sie. »Das heißt, wenn du es einrichten kannst. Ein Freund von ihm, ein alleinerziehender Vater, ist nicht nach Hause gekommen, und Tim macht sich Sorgen um ihn und das Kind.«
Gemma hatte bereitwillig zugestimmt, aber jetzt fügte sie hinzu: »Meinst du nicht, dass Tim überreagiert? Da liegt doch sicher nur irgendein Missverständnis vor.«
»Ich habe immer gesagt, Tims Puls würde nicht mal bei einem Erdbeben schneller gehen. Ich habe mir gewünscht , er wäre ein bisschen emotionaler.« Die Art, wie Hazel das Wort betonte, machte deutlich, was sie davon hielt. »Was ich sagen will, ist: Wenn Tim sich Sorgen macht, dann hat er einen guten Grund.« Sie manövrierte das schwerfällige Getriebe des Golf mit einiger Mühe in einen tieferen Gang und trommelte dann mit den Fingern auf dem Lenkrad herum, während sie an einer roten Ampel hielten. »Über seinen Freund weiß ich nur, dass sie sich von der Uni kennen und vor kurzem den Kontakt wieder aufgenommen haben. Er ist Rechtsanwalt und heißt Naz Malik. Ein Pakistani. Ich bin ihm nie begegnet. Maliks Frau war in irgendeinen Skandal verwickelt, und ich nehme an, dass Tim in ihm einen Leidensgenossen sah.«
Gemma warf ihrer Freundin einen Seitenblick zu, aufgeschreckt durch den bitteren Ton, doch Hazel fuhr fort: »Ich
weiß nicht genau, warum er mich angerufen hat - ich kann mir höchstens vorstellen, dass er deinen Rat einholen wollte, weil er ja von deinem Besuch bei mir wusste.«
Gemma fürchtete, dass jede weitere Bemerkung das Gespräch auf vermintes Gelände führen würde, und wandte sich deshalb wieder ihrem Straßenatlas zu. »In Whitechapel solltest du besser die Commercial Street nehmen. Soviel ich weiß, ist die Brick Lane in die andere Richtung eine Einbahnstraße.«
Der Samstagsverkehr war nicht allzu dicht, und sie kamen gut voran. Am Tower Hill bogen sie von der Uferstraße ab, und bald schon ragte der schmucklose Turm von Christ Church Spitalfields vor ihnen auf. Gegenüber erhob sich die dunkle Backsteinfassade des alten Spitalfield Market, gekrönt von der neuen glasüberdachten Einkaufspassage.
Als Kind war Gemma einige Male mit ihren Eltern in Spitalfields und in der Petticoat Lane auf dem Markt gewesen, und einmal hatte sie mit ihrem Exmann Rob die Brick Lane besucht. Damals war sie noch ganz frisch bei der Kriminalpolizei, und sie war sich sicher, dass die billigen Zigaretten und Spirituosen, die Rob auf dem Markt gekauft hatte, geschmuggelt oder gestohlen waren. Die Straße hatte nach verrottenden Abfällen gerochen, die Gebäude waren ihr schmutzig und verwahrlost vorgekommen, und selbst im Vergleich mit Leyton, wo sie aufgewachsen war, hatte sie die Atmosphäre als rau und unfreundlich empfunden. Dann hatten sie und Rob auch noch einen Streit angefangen; er hatte sie - nicht zum ersten Mal - eine selbstgerechte Zicke genannt, und sie hatte ihn - nun ja, daran wollte sie sich gar nicht so genau erinnern. Alles in allem war es eine Erfahrung gewesen, die sie lieber nicht hatte
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