Wenn Die Wahrheit Stirbt
hatte gewusst, dass er sich aufregen würde, aber dass er derart ausrasten würde, damit hatte sie nicht gerechnet. »Sie haben mich nur gegen den Wagen gestoßen. Und du darfst auf keinen Fall die Operation des Drogendezernats gefährden. Kevin und Terry Gilles dürfen nicht
erfahren, dass ich Polizeibeamtin bin, oder auch nur, dass ich mit der Polizei zu tun habe. Oder mit dir. Das wird sämtliche Informationen, die ich von Gail Gilles bekommen habe, fragwürdig erscheinen lassen, und es könnte uns beide den Job kosten. Außerdem könnte es Charlotte ernsthaft in Gefahr bringen.«
Kincaid starrte sie an. »Verdammt und zugenäht. Ich habe dich dorthin geschickt.« Er vergrub die Hände in den Hosentaschen, als fürchtete er, die Beherrschung zu verlieren und irgendetwas zu zerschlagen. » Ich habe dich in Gefahr gebracht.«
»Das konntest du doch nicht wissen. Und ich wollte ja unbedingt hingehen. Du musst einfach abwarten, bis die Operation des Drogendezernats abgeschlossen ist, und dann kannst du unseren liebenswürdigen Freunden Kevin und Terry mit der ganzen Härte des Gesetzes kommen.«
»Das kann noch Monate dauern«, protestierte er. »Die von der Droge wollen mir ja keinen Zeitplan geben.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Drogenfahnder so empfindlich wären, wenn ihre Operation nicht vor dem Durchbruch stünde«, meinte Gemma nachdenklich.
Kincaid ging weiter auf und ab. »Selbst wenn es nur Tage sind - bis dahin werden sie die wenigen Beweise, durch die ich sie mit dem Mord an Naz Malik in Verbindung bringen könnte, längst vernichtet haben. Und da ist noch etwas. Azad sagte mir, Kevin und Terry Gilles seien die Rädelsführer des Mobs gewesen, der den Brandanschlag auf sein Restaurant verübt hat. Er hat der Polizei nichts gesagt, vielleicht, weil er sich nicht noch mehr Ärger einhandeln wollte, oder vielleicht aus einem Gefühl der Loyalität Naz und Sandra gegenüber. Aber wenn Naz davon wusste …«
»Dann dachten Kevin und Terry vielleicht, wenn sie Naz zum Schweigen brächten, wäre das auch die Garantie, dass Azad den Mund hält«, mutmaßte Gemma.
»Oder vielleicht hat Naz gedroht, sie anzuzeigen.«
»Oder vielleicht ist es noch ein bisschen komplizierter.« Kincaid blieb vor dem Schreibtisch stehen und drehte die Zeitung wieder zu sich herum. »Dieser Artikel deutet an, dass Azad neben seinem Restaurant noch in andere, nicht ganz so saubere Geschäfte verwickelt ist. Billigunterkünfte für illegale Einwanderer, Ausbeuterbetriebe.Vielleicht hat er die Gilles-Brüder deswegen nicht angezeigt, weil Naz oder Sandra etwas gegen ihn in der Hand hatten.«
»Ein Geschäft auf Gegenseitigkeit? Du gehst davon aus, dass Sandra ihre Brüder geschützt hätte?«
»Nein. Ich denke, dass Azad davon ausgegangen sein könnte, dass Sandra sie schützen würde.«
Gemma schüttelte den Kopf. »Ich dachte, du hättest Azad schon mehr oder weniger ausgeschlossen.«
»Vielleicht habe ich nicht genau genug hingeschaut.« Kincaid beugte sich über den Schreibtisch und schob ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. »Aber jetzt musst du mir erst mal versprechen, dass du in Zukunft einen großen Bogen um die Brick Lane, Bethnal Green und überhaupt das ganze East End machen wirst.« Seine Berührung war sanft, aber seine Stimme war bitterernst. »Auf jeden Fall so lange, bis diese Drogenermittlung abgeschlossen ist und ich mir Kevin und Terry Gilles vorknöpfen kann.«
Kaum hatte Kincaid Gemmas Büro verlassen, da kam Melody herein und machte sorgfältig die Tür hinter sich zu. Ihr Gesicht war kreidebleich. »Chefin -«
»Melody, ist Ihnen nicht gut?«, fragte Gemma. »Was ist denn nur los mit Ihnen? Setzen Sie sich doch, um Himmels -«
»Chefin.« Melody nahm Haltung an. Ihr makelloses marineblaues Kostüm hätte eine Uniform sein können, und sie sah Gemma nicht in die Augen. »Chefin, ich möchte den Dienst quittieren.«
23
Ich bin sehr stolz auf meine Cockney-Wurzeln und habe viele Erinnerungen an meine Kindheit im East End. Ich wollte die Geschichten über diese Lebensweise aufzeichnen, um sie vor dem Vergessen zu bewahren … Viele Familien haben Wurzeln im Londoner Osten oder in anderen Gegenden mit traditionell ausgeprägtem Gemeinschaftsgefühl, und auch ihre Geschichten wollte ich festhalten.
Gilda O’Neill, East End Tales
»Machen Sie keinen Quatsch, Melody«, sagte Gemma. »Setzen Sie sich erst mal.«
Melody ging auf den Stuhl zu, so steif, als gehörten ihre Beine
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