Wenn Die Wahrheit Stirbt
Ereignissen ausgelöst, die zu dem Zeitungsartikel geführt hatte. Aber sie sah keine andere Möglichkeit.
Es war schon heiß, und sie hatte keine Lust auf einen Fußmarsch gehabt, auch wenn sie Gefahr lief, mit dem Wagen im Marktgetümmel auf der Portobello Road stecken zu bleiben. Die Jungs hatten Theater gemacht, weil sie Charlotte sehen wollten - besonders Toby, der immer noch scharf auf Charlottes Buntstifte war -, aber ihr Tag war auch schon verplant.
Duncan hatte Toby zu seinem samstäglichen Fußballspiel gefahren und Gemma zum Abschied zugeflüstert, er könne sich nichts Schöneres vorstellen, als im Park in der Sonne zu sitzen und einem chaotischen Haufen von Fünf- und Sechsjährigen zuzuschauen, die einem Ball hinterherjagten. Und Kit traf sich im Starbucks mit ein paar Schulkameraden, um über ein Ferienreferat zu diskutieren - behauptete er jedenfalls, wenngleich Gemma denVerdacht hatte, dass das Treffen eher in eine Klatschund Musiktauschbörse ausarten würde. Aber sie war ja froh, dass er inzwischen ein bisschen mehr mit Gleichaltrigen unternahm.
Sie hatte gerade einen Parkplatz in der Nähe von Bettys Wohnung gefunden, als ihr Handy klingelte. Ihr Herz machte
einen kleinen Satz, als sie sah, dass es ihre Schwester war, obwohl sie erst am Morgen mit ihrer Mutter telefoniert hatte und Vi ihr versichert hatte, es gehe ihr gut.
»Hallo, Cyn«, sagte sie und hoffte wie immer, wenn sie nur am Anfang einen optimistischen Ton anschlüge, würde das Gespräch auch so bleiben.
»Mum hat gesagt, dass du nicht nach Leyton kommst.«
»Ich komme heute nicht«, präzisierte Gemma. »Ich habe ihr gesagt, dass ich sie morgen mit den Jungs besuche. Sie haben heute beide schon was vor, und ich habe versprochen, bei Charlotte vorbeizuschauen -«
»Charlotte? Ist das das kleine Mädchen, von dem Mum sagt, dass du es zu dir genommen hast?«
»Ich habe sie nicht zu mir genommen.« Schon dröhnte Gemma der Kopf vor aufgestautem Ärger. »Ich habe mich darum gekümmert, dass sie bei Wesleys Mutter wohnen kann, und ich fühle mich verantwortlich -«
»Du fühlst dich verantwortlich für das Kind von Fremden, aber nicht für deine eigene Mutter?« Cyn wurde so laut, dass sie die Stimmen ihrer Kinder Brendan und Tiffani übertönte, die sich im Hintergrund zankten. »Könnt ihr zwei vielleicht mal die Klappe halten?«, schrie sie, ohne die Hand über den Hörer zu legen. Gemma platzte fast das Trommelfell, aber immerhin sank der Geräuschpegel am anderen Ende vorübergehend.
Gemma zuckte zusammen und sagte: »Cyn, was ist denn los mit dir? Das ist doch lächerlich. Natürlich fühle ich mich verantwortlich für Mum -«
»Ach ja? Du hast sie ja noch gar nicht gesehen, seit sie aus dem Krankenhaus zurück ist. Sie ist so - so gebrechlich, und - sie wirkt - irgendwie wirkt sie auf einmal so alt, Gemma, und ich weiß nicht, was ich machen würde -« Zu Gemmas Entsetzen schien ihre Schwester, die sonst so tough und durch nichts zu erschüttern war, den Tränen nahe.
»Die Ärzte haben doch gesagt, dass es an der Chemo liegt, Cyn«, beeilte sich Gemma, sie zu beruhigen. »Versuch, dir nicht so viele Gedanken zu -«
»Und heute Morgen hat sie mich nach der Hochzeit gefragt.« Der vorwurfsvolle Ton war wieder da, stärker als je zuvor. »Was soll ich ihr denn sagen? Hast du dich überhaupt schon um irgendetwas gekümmert?«
»Ich - Ich bin nicht dazugekommen. Auf der Arbeit war so viel zu tun, und -«
»Ja, ja. Es ist immer irgendwas, Gemma.« Cynthias Stimme war jetzt eiskalt. »Dir ist es doch egal, wen du enttäuschst. Es wundert mich, dass Duncan es noch mit dir aushält. Und du weißt genau, wie sehr Mum sich an dieser Hoffnung festhält. Du bringst sie noch ins Grab, wenn du so weitermachst, du wirst schon sehen.« Es knackte in Gemmas Ohr, und dann war die Leitung tot.
»Cyn?«, sagte Gemma. »Cyn?« Und als ihr dann klar wurde, dass ihre Schwester tatsächlich einfach aufgelegt hatte, ließ sie ihre Wut an dem unschuldigen Handy aus. »Hexe!«, schimpfte sie und pfefferte das Gerät auf den Beifahrersitz, aber danach ging es ihr auch nicht besser.
In der Hektik der letzten Tage hatte sie es geschafft, die Hochzeit vollkommen auszublenden. Jetzt spürte sie schlagartig wieder die Last der Verpflichtung, und zugleich wallte die Übelkeit in ihr auf, die sie plagte, seit Sandras Brüder sie mit dem Kopf gegen das Dach ihres Escort gestoßen hatten. Die Luft im Auto kam ihr plötzlich unerträglich heiß und
Weitere Kostenlose Bücher