Wenn Die Wahrheit Stirbt
jemand anderem. Sie setzte sich und deutete mit einem Kopfnicken auf die Zeitung. »Das ist alles meine Schuld. Diese Story.«
»Wovon reden Sie eigentlich?«
»Mein Vater. Mein Vater ist der Eigentümer der Chronicle .«
»Was?« Gemma fragte sich, ob sie vor lauter Kopfschmerzen schon Halluzinationen hatte. »Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen. Das ist nicht witz-«
»Nein. Es ist mein bitterer Ernst. Ich wollte, es wäre nicht so«, sagte Melody. »Mein Vater ist Ivan Talbot. Der Ivan Talbot. Der Zeitungsmagnat.«
»Aber - Aber wieso haben Sie das nie erzählt?«, fragte Gemma, die wie vom Donner gerührt war.
»Weil ich dachte, dass niemand mir mehr trauen würde, wenn bekannt würde, wer ich bin. Und das zu Recht. Das alles« - sie stieß die Zeitung mit dem Finger an und verzog angewidert das Gesicht - »wäre ohne mich nie passiert.«
»Aber Sie haben doch sicher nicht mit Absicht -«
»Natürlich nicht. Aber als ich Ahmed Azad in dem Club sah, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, den Redaktionscomputer für die Recherche zu benutzen. Es war zu einfach, und es ist nicht das erste Mal, dass ich das Archiv der Chronicle nach Informationen durchsucht habe, von denen ich dachte, sie könnten bei der Lösung eines Falles helfen. Ich dachte, ich könnte beides gleichzeitig haben - und das war dumm von mir. Weil ich es diesmal verbockt habe.
Ich dachte, mein Vater wäre schon nach Hause gegangen. Ich habe mich in sein Büro gesetzt, und er kam zurück, als ich gerade die Datei über Azad geöffnet hatte. Er sah, woran ich arbeitete. Und dann -« Melody schüttelte den Kopf, als könne sie ihre eigene Torheit nicht fassen - »dann war ich so blöd, ihn zu fragen, ob er etwas über Ritchies Club wisse. Mehr hat er nicht gebraucht, um eins und eins zusammenzuzählen.«
»Und er hat Ihnen nicht gesagt, dass er die Story bringen würde?«
»Sie kennen meinen Vater nicht. Nichts ist wichtiger als die Story. Nichts. Ich könnte ihn umbringen.«
So also hatte die Zeitung die Verbindung zwischen der Polizei, dem Club und Azad hergestellt, dachte Gemma.
»Ich hätte es wissen müssen«, fuhr Melody fort. »Ich hätte ihm nie vertrauen dürfen. Und Sie hätten mir nie vertrauen dürfen.«
»Melody, das war nicht vorherzusehen«, protestierte Gemma. »Vielleicht hätten Sie die Recherche nicht bei der Zeitung machen sollen -«
»Aber verstehen Sie denn nicht - das ist doch erst die Spitze
des Eisbergs! Sie wissen doch, wie die Zeitungen sind, und die von meinem Vater ist eine der schlimmsten. Okay, ein Körnchen Wahrheit sollte bei einer Story schon dabei sein, aber wenn er das erst hat, kann er aus Stroh Gold spinnen. Wenn er wüsste, dass ich an einem brisanten Fall arbeite, würde er mich beobachten wie ein Geier. Und wenn meine Verbindung mit ihm bei der Metropolitan Police bekannt würde, dann würde man mich nie mehr an irgendwelche spektakulären Fälle ranlassen. Haben Sie sich nicht gefragt, warum ich mich nie um eine Beförderung bemüht habe? Ich konnte es nicht riskieren. Ich durfte nicht riskieren, dass irgendjemand auf mich aufmerksam wird.«
»Melody«, unterbrach Gemma sie, »haben Sie sich vielleicht einmal überlegt, dass Ihr Vater versucht haben könnte, Ihre Karriere zu sabotieren, indem er diese Story veröffentlichte? Dass er sich vielleicht denken konnte, dass Sie versuchen würden zu kündigen? Ich meine, mal ehrlich - so viel ist ja nun auch wieder nicht passiert, außer dass ein paar Leute sich auf den Schlips getreten fühlen, aber Sie hat er damit gedemütigt.«
Melody starrte sie an. »Nein. Aber - o Gott. Ich war ja noch viel dümmer, als ich dachte. Er wollte nie, dass ich zur Polizei gehe. In seinen Augen ist das eine Vergeudung meiner Ausbildung, die eine Menge Geld gekostet hat, und meiner Intelligenz, ganz abgesehen davon, dass ich seiner Ansicht nach keinen sehnlicheren Wunsch haben kann, als fortzuführen, was er in so mühevoller Arbeit aufgebaut hat. Und er ist verdammt hartnäckig, mein Herr Papa, sonst wäre er nicht da, wo er ist.« Sie runzelte die Stirn. »Ich habe ihm die Gelegenheit geradezu auf dem Silbertablett serviert, nicht wahr?«
»Reizt es Sie denn nicht?«, fragte Gemma. Sie überlegte, wie es wohl wäre, die Art von Leben angeboten zu bekommen, wie Melodys Vater es führen musste. »Ich meine, die Zeitung irgendwann von ihm zu übernehmen? Für die meisten Menschen
wäre es sicher eine Verlockung. Macht, Einfluss - und Geld. Ihr Vater muss
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