Wenn Die Wahrheit Stirbt
drückte Charlotte an sich, widerstand der Versuchung, sie noch länger im Arm zu halten, und winkte den beiden zu, als sie die Wohnung verließ.
Der Abstieg erwies sich allerdings als ebenso große Herausforderung wie der Aufstieg, und als sie ihren Wagen erreicht hatte, blieb sie erst einmal einfach nur sitzen.
Sie hatte das Gefühl, dass ihr alles über den Kopf wuchs - ihr ganzes Leben schien ihr aus den Händen zu gleiten, ohne dass sie irgendetwas dagegen tun konnte, und sie brachte nicht die Kraft und die Konzentration auf, um dagegen anzukämpfen.
Sie ließ den Kopf auf das heiße Lenkrad sinken, wobei sie darauf achtete, dass es nicht mit der schmerzenden Beule an ihrer Stirn in Berührung kam, und versuchte nachzudenken. Hochzeit … Mutter … Charlotte … die Gilles-Brüder … Melody … Hochzeit …
Ihre Gedanken kreisten wirr durcheinander, und sie setzte sich auf, als das Schwindelgefühl sie erneut überkam. So kam sie nicht weiter, nicht in diesem Zustand. Sie hatte dringend vernünftigen Rat nötig, und plötzlich wusste sie, mit wem sie reden konnte . Sie steckte den Zündschlüssel ein, ließ den Motor an und fuhr los - nicht zu Tobys Fußballspiel, sondern nach Kensington.
Doug Cullen war an diesem Morgen mit einer Liste von Wohnungen und Maklern in der Tasche aus dem Haus gegangen. Aber irgendwie war er in den falschen Zug gestiegen, und anstatt mit der District Line in Richtung Putney zu fahren, fand
er sich plötzlich an der Victoria Station. Der Fehler war zum Teil der Gewohnheit, zum Teil seiner Zerstreutheit geschuldet. Aber da Letztere damit zu tun hatte, dass er ständig über die Sache mit dem Zeitungsartikel nachgrübeln musste, beschloss er, auszusteigen und in den Yard zu gehen.
Er war froh, sich in seinem Büro verbarrikadieren und, da es Samstag war, ungestört über alles nachdenken zu können. Irgendetwas stimmte an der ganzen Sache nicht. Das fing schon mit Kincaids Reaktion an. Nachdem die erste Überraschung abgeklungen war, hatte sein Chef kaum noch ein Wort darüber verloren und die Sache ganz lässig abgetan. Nun, vielleicht besaß er ja so viel Einfluss, dass jede Kritik aus den oberen Etagen von ihm abprallen würde, aber Cullen war bei dem Gespräch mit Ritchie auch dabei gewesen, und er wusste, dass er keinesfalls unverwundbar war.
Wie zum Teufel hatte jemand ihren Besuch - denn der musste mit den »polizeilichen Ermittlungen« doch gemeint sein - mit Azads Mitgliedschaft im Club in Verbindung bringen können, von der sie ja selbst nichts gewusst hatten?
Es sei denn, es war tatsächlich noch eine andere Ermittlung im Gang … Er griff nach einem Kuli und begann auf dem Notizblock auf seinem Schreibtisch herumzukritzeln - verschiedene Namen, die er mit großen, geschwungenen Pfeilen miteinander verband. Was, wenn der Club irgendwie in die Operation des Drogendezernats verwickelt war? Aber wenn er und Kincaid gewarnt worden waren, ihre Finger davon zu lassen, dann war es auch ausgeschlossen, dass irgendwelche anderen Ermittler unterwegs waren und die Leute offiziell befragten. Diese Theorie konnte er also vergessen.
Aber möglicherweise gab es eine Verbindung zwischen Lucas Ritchie und Sandra Gilles’ Brüdern, über seine Freundschaft mit Sandra. Und wenn die Brüder mit Drogen handelten, war es dann denkbar, dass Ritchie die Ware schmuggelte? Der
Club würde sich gewiss gut als Geldwaschanlage eignen, und vielleicht investierten ja einige von Ritchies Kunden nebenbei etwas in seine illegalen Geschäfte.
Aber wie passte Ahmed Azad da hinein? Soweit Cullen wusste, war er nie beschuldigt worden, irgendetwas mit Drogen zu tun zu haben.
Der Kuli kleckste. Cullen riss den verschmierten Zettel in Streifen und versaute sich dabei die Finger mit Tinte. Er mischte die Streifen durch, und dabei fiel ihm auf, dass er etwas - oder vielmehr jemanden - vergessen hatte.
Gemma. Gemma war von Anfang an in den Fall verwickelt gewesen, noch bevor er und Kincaid eingeschaltet worden waren. Und er kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie nicht einfach die Finger davon gelassen hatte, schon gar nicht, nachdem sie geholfen hatte, eine Pflegefamilie für Naz Maliks Tochter zu finden. Aber welche denkbare Verbindung gab es zwischen Gemma und Lucas Ritchie? Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, dass Gemma irgendwie mit der Sache zu tun hatte, und dieser Gedanke behagte ihm ganz und gar nicht. Aber er brauchte mehr
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