Wenn Die Wahrheit Stirbt
nicht ohne Verrenkungen erklären, wo sie war und wer bei ihr war, und ebenso wenig konnte sie vor versammeltem Publikum lügen.
Sie schluckte, beschloss den Anruf zu ignorieren und machte ihr Handy aus. »Ich glaube, ich hätte gerne ein Glas Champagner als Aperitif, Papa«, sagte sie und lächelte strahlend.
Gemma ging noch einmal durch das Haus, vergewisserte sich, dass nirgendwo mehr Licht brannte, und schloss alle Türen. Als sie in die Diele zurückkam, schien die Leere des Hauses sie zu verfolgen wie ein Schatten. Hastig schlüpfte sie hinaus und schloss die Tür von außen ab. Der Gedanke an ihr eigenes Haus, warm und hell und voll von den Spuren der samstäglichen Aktivitäten der Jungs, war plötzlich nahezu unwiderstehlich, aber zuerst musste sie noch Naz Maliks Schlüssel zurückgeben.
Sie stand auf dem Gehsteig und hatte das Gefühl, dass die schwere, feuchtwarme Abendluft sich wie zerlassene Butter um ihre bloßen Arme und Beine legte. Wenn sie an der Old Street in die U-Bahn stieg, war es nur eine Haltestelle auf der Northern Line bis zur Angel Station in Islington, und von dort waren es noch einmal zehn Minuten zu Fuß bis zu Tims Haus.
Sie wandte sich nach links und dann noch einmal nach links, nachdem sie beschlossen hatte, die Brick Lane hinaufzugehen und nicht die Commercial Street. An der Ecke war der Curryduft verlockend intensiv, doch selbst wenn sie die Zeit gehabt hätte, schienen ihr die asiatischen Schnellrestaurants in der Brick Lane nicht zu den Lokalen zu gehören, in denen man sich als Frau ohne Begleitung wohlfühlen konnte.
Doch als sie ein Stück in nördlicher Richtung gegangen war, wichen die Curryrestaurants bald kleinen Läden und Dienstleistungsbetrieben - Stoffgeschäfte, Herren- und Damenfriseure, Reisebüros, Geldverleiher -, alle eingestellt auf die Bedürfnisse der ortsansässigen Bangladeschis, und alle geschlossen bis auf die Zeitungs- und Lebensmittelläden. Aus der offenen Tür eines Zeitungskiosks drang der klagende Singsang asiatischer Musik, monoton und ungewohnt, aber in ihren Ohren dennoch irgendwie reizvoll. Die Schilder waren auf Englisch und Bengali, und die Straßenlaternen, deren filigranes Gitterwerk aus rotem und grünem Metall von indischen Ornamenten inspiriert war, gaben der schmalen Straße einen festlichen Rahmen.
Gemma blieb stehen und grübelte einen Moment, bis ihr einfiel, dass sie das gleiche Muster in einigen von Sandra Gilles’ Arbeiten gesehen hatte.
Als sie die Hanbury Street erreichte - weit über Whitechapel hinaus berühmt und berüchtigt als Schauplatz des grässlichen Mordes an Annie Chapman, Jack the Rippers zweitem Opfer -, lag der als »Banglatown« bekannte Abschnitt der Brick
Lane schon größtenteils hinter ihr. Hier verwandelten die hohen Mauern der Old Truman Brewery die Straße in eine enge Schlucht, und der Schornstein hob sich als dunklerer Schatten gegen den Nachthimmel ab. Doch hier unten dröhnte stampfende Musik aus der Vibe Bar, und die Passanten, die sich an ihr vorbeidrängten und sie anrempelten, waren junge, größtenteils weiße Nachtschwärmer, gestylt für den Discobesuch am Samstagabend. Diese einst verrufene Gegend des East End war zu einer angesagten Adresse geworden, einem Mekka der hippen und wohlhabenden jungen Londoner. Es hatte gerade noch genug von dem alten anrüchigen Touch, um den Besuchern aus dem West End das Gefühl von Freiheit und Abenteuer zu geben, dachte Gemma, als sie an einem DJ vorbeikam, der gerade an einem improvisierten Stand auf dem Gehsteig seine Plattenspieler aufbaute.
Hier waren noch mehr Läden geöffnet - das Angebot umfasste Vintage-Klamotten, Schallplatten, Bücher, Kaffee und W-LAN-Hotspots. Als Gemma sich den Bahngleisen der alten Bishopsgate-Linie näherte, waren mehr und mehr Graffiti zu sehen.
Dann stieg ihr der Duft von frisch gebackenem Brot in die Nase, und sie beschleunigte ihren Schritt. Auf der linken Seite entdeckte sie zwei Bagel-Bäckereien, beide hell erleuchtet und mit offenen Türen. Als sie näher kam, lief ihr das Wasser im Mund zusammen, und ihr wurde fast ein bisschen schwindlig. Die aufgewärmte Pizza, die sie zu Hause erwartete, schien Lichtjahre entfernt, und die Samosa eben hatte sie nur noch hungriger gemacht. Sie brauchte dringend eine Stärkung.
Gemma entschied sich für die zweite Bäckerei, Beigel Bake , ganz einfach, weil die Schlange davor länger war - immer ein Zeichen dafür, dass das Essen die Wartezeit lohnte. Aber der Service war
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