Wenn Die Wahrheit Stirbt
einem Menschen begegnet zu sein - gleich welchen Geschlechts -, der nicht auf der Stelle von ihr hingerissen war.
Mit ihrer gertenschlanken Figur bewegte Attie Talbot sich wie ein junges Mädchen, und sie konnte immer noch Männern den Kopf verdrehen, die halb so alt waren wie sie. Sogar der bedauernswerte Quentin schien ihrem Charme verfallen, und Melody war schwer versucht, ihm unter dem Tisch einen Tritt ans Schienbein zu geben.
Doch ihr Vater war auch nicht blind. Er beugte sich vor und tätschelte die Hand seiner Frau, während er Quentin ein Lächeln zuwarf, das hinter der onkelhaften Fassade den Haifisch aufblitzen ließ.
Quentin lief rot an und wandte sich ab. Eins zu null für den alten Herrn, dachte Melody - er hatte sein Revier deutlich markiert und seinen Untergebenen in die Schranken gewiesen. Auf subtile Gesten verstand ihr Vater sich besonders gut.
Als Teenager hatte sie sich gerne der Vorstellung hingegeben, ihr Vater habe ihre Mutter des Geldes wegen geheiratet, aber schon damals hatte sie gewusst, dass es eine Lüge war, die sie sich zurechtgelegt hatte, um ihre eigene Eifersucht zu beschwichtigen. Man musste doch nur sehen, wie die beiden einander immer noch anschauten - bei dem Anblick konnte einem fast schlecht werden. Das Geld und der Adelstitel ihrer Mutter waren nur eine Dreingabe gewesen. Ihr Vater, der in einer Sozialsiedlung in Newcastle aufgewachsen war und mit einem Stipendium das Gymnasium besucht hatte, besaß von jeher genug Intelligenz, Durchsetzungsvermögen und vor allem Ehrgeiz, um sich nicht mit fremden Federn schmücken zu müssen.
Und er hatte auf der ganzen Linie Erfolg gehabt - der einzige
Wermutstropfen in seinem Leben war seine renitente einzige Tochter.
»Melody ist bei der Polizei beschäftigt«, sagte er nun, nachdem er den Wein gewählt hatte.
»In der Registratur«, warf Melody hastig ein und verzog den Mund zu einem - wie sie fürchtete - selten dämlichen Grinsen. »Ich schufte den ganzen Tag im Keller.«
»Notting Hill«, warf ihre Mutter beflissen ein. »Und natürlich schuftest du nicht im Keller, Schatz. Sei doch nicht albern. Und sie hat dort übrigens eine sehr schöne Wohnung«, fügte sie extra für Quentin hinzu.
»Wirklich?« Quentin beäugte sie mit etwas gesteigertem Interesse. »Da gibt es ein paar ganz nette Clubs. Ich - Äh -« Offenbar war ihm klar geworden, dass er bei seinem Chef nicht unbedingt punkten konnte, wenn er zugab, dass er sich gerne in Clubs herumtrieb. »Ich meine Pubs«, korrigierte er sich. »Ich war neulich mal auf einen Drink im Prince Albert. Mit ein paar Freunden.«
Melody hatte nicht vor zu erwähnen, dass sie ganz in der Nähe wohnte, aber sie musste irgendetwas sagen, um ihrer Mutter zuvorzukommen. »Ist aber furchtbar yuppiehaft, das Prince Albert, finden Sie nicht?«
»Ich - Äh … Ja, kann schon sein. Aber ich wollte die Einladung nicht ausschlagen, wissen Sie.« Je mehr Quentin ins Schwimmen geriet, desto mehr hörte er sich an wie eine Figur aus einem Roman von P. G. Wodehouse, und seine Augen bekamen schon diesen starren Glanz, wie die eines paralysierten Rehs im Scheinwerferlicht.
Fast schon tat er Melody ein bisschen leid. Er war ja vielleicht gar nicht so übel, aber sie war schließlich mit den Methoden ihres Vaters vertraut, und so verdrängte sie ihren Anflug von Mitgefühl und bohrte ein wenig. »Frobisher - sind das eventuell die Derbyshire-Frobishers?«, fragte sie, ohne zu wissen, ob es in Derbyshire überhaupt Frobishers gab.
»Nein. Hampshire«, antwortete Quentin.
»Quentins Vater verlegt verschiedene Jagd- und Sportzeitschriften«, erklärte ihr Vater. »Quentin sammelt in London ein bisschen Berufserfahrung.«
Aha, dachte Melody. Das erklärte alles. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Das Problem mit der Tochter ist gelöst, und dem künftigen Erben schmieren wir Honig ums Maul, um die nächste Übernahme vorzubereiten. Und wenn Quentin tatsächlich heller war, als er wirkte, dann müsste sie sich sehr in Acht nehmen.
Melody schrak zusammen, als ihr Handy klingelte. Sie verfluchte sich, weil sie vergessen hatte, es auszuschalten, und spürte die Blicke der anderen, als sie in ihrer Handtasche kramte. Nachdem sie das Corpus Delicti endlich ganz unten in der Tasche gefunden hatte, warf sie einen Blick auf das Display und erstarrte. Gemma. Einen Moment lang verdrängte die aufsteigende Panik jeden klaren Gedanken. Sie konnte nicht zurückrufen. Nicht jetzt. Nicht hier. Sie konnte ihrer Chefin
Weitere Kostenlose Bücher