Wenn Die Wahrheit Stirbt
selbst war an diesem Abend dem Charme des Lokals erlegen. Schon seit sie ein Teenager war, gingen ihre Eltern zu besonderen Anlässen mit ihr hierher zum Essen, und sie liebte es - die charakteristischen Rauten aus vielfarbigem Buntglas über der Tür; die Straßenlaterne, die durch den blauen Halbmond schimmerte; die Bilder; das große Wandgemälde im Speisesaal; die frisch gestärkten weißen Tischdecken - und vor allem das Gefühl einer reibungslos funktionierenden Maschinerie, die
über dem unsichtbaren Chaos der Küche im Untergeschoss vor sich hin schnurrte, mit einer Perfektion, von der Melody in ihrem Arbeitsalltag nur träumen konnte.
Der Gedanke riss sie in die Gegenwart zurück. Sie zupfte am Dekolleté ihres Kleids und blickte sich erneut nervös im Saal um. Die Arbeit - jedenfalls ihre Arbeit - und diese Art von Vergnügen, das passte einfach nicht zusammen. Fehlte nur noch, dass sie zufällig auf der Damentoilette irgendeine magersüchtige Möchtegern-Berühmtheit beim Koksen erwischte und sich gezwungen sah, zwischen Pflichterfüllung und der Wahrung ihrer Tarnung zu wählen. Sie schauderte.Wenigstens würde niemand es wagen, in den heiligen Hallen des Ivy zu fotografieren - sie achtete strikt darauf, nie zusammen mit ihrem Vater auf Fotos zu erscheinen.
Er hatte die Zeit zwischen den Phasen des größten Andrangs vor beziehungsweise nach den Theatervorstellungen gewählt. Das war eher ungewöhnlich für ihn, der doch immer gerne sah und gesehen wurde, aber vielleicht hatte er geglaubt, sie nur so dazu überreden zu können, die Einladung anzunehmen. Jetzt machte er jedenfalls einen sehr selbstzufriedenen Eindruck. Zwar war es nicht üblich, dass man im Ivy bevorzugten Gästen besondere Plätze reservierte, aber an diesem Abend hatten sie einen erhöhten Vierertisch ganz hinten im Saal bekommen, von dem aus man die anderen Gäste wunderbar beobachten konnte.
»Sitz doch bitte still, Schatz, und hör auf, an deinem Kleid herumzuzupfen«, flüsterte ihre Mutter. Sie hatte Melodys Abendgarderobe bei einem angesagten Modedesigner in Knightsbridge gekauft, dessen Stammkundin sie war, und ihr gutes Auge hatte wie üblich ausgereicht, um einen perfekten Sitz zu garantieren. Das Kleid war schwarz und hauteng, schulterfrei und so tief ausgeschnitten, dass Melody sich darin extrem unwohl fühlte. Sie hatte schon immer Hemmungen wegen ihrer breiten Schultern und ihrer ziemlich üppigen Oberweite gehabt.
»Unsinn«, hatte ihre Mutter am Nachmittag gesagt, nachdem sie in Melodys Wohnung aufgekreuzt war, in der Hand eine nach Parfum duftende, mit Seidenpapier gefütterte und mit Schleifchen verzierte Tasche, die ihr Geschenk enthielt. »Du musst wirklich lernen, deine Vorzüge optimal zur Geltung zu bringen, Schatz.« Sie half Melody in das Kleid, zog den Reißverschluss hoch und trat zurück, um ihr Werk zu bewundern. »Wirklich bezaubernd. Und du hast ja tatsächlich Beine. Sollte man gar nicht meinen bei den scheußlichen Hosenanzügen von der Stange, die du immer trägst.«
Melody hatte die Waden einer Läuferin, die sie sich schon als junges Mädchen im Internat antrainiert hatte; auch heute noch joggte sie im Hyde Park, wann immer die Arbeit es erlaubte. Aber sie fand, dass die Muskeln sie nur noch stämmiger wirken ließen, und tat daher alles, um sie vor neugierigen Blicken zu verbergen.
»Und mach um Himmels willen etwas mit deinen Haaren«, hatte ihre Mutter hinzugefügt und ihr einen Kuss auf die Wange gegeben. »Bestimmt kann Bobby dich noch irgendwie einschieben.«
Und so hatte Melody sich am Samstagnachmittag in einen der schicksten Salons von Kensington geschlichen und war eine Stunde später frisch frisiert wieder herausgekommen, immerhin jedoch mit dem Gefühl, einen kleinen Sieg errungen zu haben, weil sie sich standhaft geweigert hatte, sich auch nur das dezenteste Highlight aufschwatzen zu lassen. Ihr dichtes, glänzendes braunes Haar, das sie zu einem kinnlangen Bob geschnitten trug, war einer der wenigen Punkte, in denen sie ein bisschen eitel war.
Jetzt zupfte sie noch einmal trotzig am Dekolleté ihres Kleids und warf ihrer Mutter einen finsteren Blick zu. Doch die zwinkerte einfach nur zurück, und Melody merkte, wie ihre Züge sich widerstrebend zu einem Lächeln entspannten. Es war nahezu
unmöglich, Lady Athena Talbot, geborene Hobbs, dauerhaft böse zu sein. Von Kindesbeinen an war sie von aller Welt einfach nur Attie gerufen worden, und Melody konnte sich nicht erinnern, je
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