Wenn Die Wahrheit Stirbt
stieß.
Jetzt kam er über den Rasen auf sie zu. Sie sah, dass er sich seiner Krawatte entledigt und die Ärmel seines blassrosa Hemds hochgekrempelt hatte. Er trug eine Sonnenbrille, und goldene Lichtreflexe spielten in seinem kastanienbraunen Haar.
»Das ist vielleicht eine Bullenhitze«, sagte er, als er bei ihr anlangte und seine Sonnenbrille in der Hemdtasche verstaute.
»Du siehst aus, als kämst du direkt aus Miami«, sagte sie und unterdrückte den plötzlichen Impuls, seine Wange zu berühren. »Die Sonnenbrille gefällt mir.«
»Wenn das hier Miami wäre, dann wäre ein Ozean in der Nähe. Und wir wären beide drin.« Er musterte sie kritisch. »Du bist auch froh, wenn du das hier hinter dir hast, wie? Ich habe mit Mrs. Hakim telefoniert. Sie sagte, Alia sei sehr mitgenommen. Ihr Vater hat sich freigenommen.«
Gemma runzelte die Stirn, als sie an Alias kritische Bemerkungen über ihre Eltern zurückdachte. »Das ist nicht unbedingt ein Vorteil, fürchte ich«, murmelte sie. »Aber am besten bringen wir es einfach hinter uns. Wo ist Doug?«
»Er ist zum Yard zurückgefahren, um über einen Fall zu recherchieren, an dem Naz Malik zuletzt arbeitete. Ich erklär’s dir später noch genauer.«
Sowohl das Gartentor als auch die Wohnungstür standen offen; der Eingang war mit einem Perlenvorhang verhüllt. Gemma und Kincaid traten in den Garten, doch bevor sie klingeln konnten, teilte sich der Vorhang, und Alia kam heraus. Heute trug sie den Hidschab, während sie ansonsten leger gekleidet war, mit Jeans und einer langärmeligen gelben Bluse. Das Gesicht, das unter dem Schleier hervorschaute, war blass und verquollen, und trotz ihres dicken Brillengestells war deutlich zu erkennen, dass ihre Augen vom Weinen gerötet waren.
»Alia«, sagte Gemma, »das ist Superintendent Kincaid. Wir müssen uns nur kurz mit Ihnen unterhalten.«
Das Mädchen streifte Kincaid mit einem Blick, dann zog sie den Kopf ein und flüsterte Gemma zu: »Ist mit Charlotte alles in Ordnung? Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«
»Es geht ihr gut«, versicherte Gemma ihr. »Sie ist bei einer guten Freundin von mir.« Den Antrag von Sandras Schwester erwähnte sie nicht. »Wie geht es Ihnen?«
Alia berührte Gemmas Ärmel und sprach noch leiser. »Ich habe meinen Eltern nicht gesagt, dass ich am Samstag auf Charlotte aufgepasst habe. Sie mögen es nicht - mein Abba - «
»Alia!«, rief eine strenge Männerstimme von drinnen. »Bring deine Besucher ins Haus.«
»Gleich, Abba!« An Gemma gewandt, flüsterte sie: »Muss ich wirklich -«
»Ja, es muss leider sein«, antwortete Gemma.
Mit einem resignierten Nicken hielt Alia den Vorhang auf, und Gemma und Kincaid betraten die Wohnung.
Abgesehen von einer Kiste mit Spielzeug bildete das Wohnzimmer einen deutlichen Kontrast zu dem bunten Durcheinander im Vorgarten. Die Sitzecke bestand aus einer dreiteiligen Garnitur mit geblümtem Bezug und einem Beistelltisch in Form eines Messingtabletts auf einem Gestell. An der gegenüberliegenden Wand prangte ein riesiger Flachbildfernseher, auf dem ohne Ton ein Bollywood-Sender lief. Gemma fragte sich, ob die Wohnung eigens für ihren Besuch aufgeräumt worden war.
Die Regale waren mit farbenfrohem orientalischem Nippes bestückt, doch Bücher oder Zeitschriften waren nirgends zu sehen. Auf einem kleinen Tischchen stand ein Ventilator, der die warme, stehende Luft ansog und sie ohne spürbaren Effekt ein wenig im Zimmer verteilte. Gemma sah, dass auf Alias Oberlippe kleine Schweißperlen standen, doch sie wusste nicht, ob das Mädchen vor Nervosität schwitzte oder nur unter der Hitze litt.
Die Frau, die auf dem Sofa saß, war eine ältere, rundlichere Ausgabe von Alia. Wie ihre Tochter hatte sie ihr Haar mit einem Schleier verhüllt, doch statt westlicher Kleidung trug sie dazu den traditionellen Salwar Kamiz im gleichen Orange wie das Kopftuch. Während sie die Besucher mit einem schüchternen Lächeln begrüßte, kam ein Mann aus der Küche, in dem Gemma Alias Vater vermutete, und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab.
»Mr. Hakim?« Kincaid streckte die Hand aus. »Ich bin Superintendent Kincaid. Und das ist Inspector James. Danke, dass Sie sich Zeit für uns nehmen.«
»Es ist unsere Pflicht.« Nachdem er das Geschirrtuch über einen Stuhl in dem kleinen Essbereich gehängt hatte, nahm er Kincaids Hand, schien die von Gemma jedoch nicht zu sehen. Er war untersetzt wie seine Frau und seine Tochter, mit einigen grauen
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