Wenn Die Wahrheit Stirbt
haben?« Als Holly die erhobene Stimme ihres Vaters hörte, sah sie vom Nachbargrundstück herüber, die kleine Stirn in Falten gezogen.
»Papa?«, rief sie. Sie ließ die Plastikschaufel fallen, die sie als Steckenpferd benutzt hatte, und kam auf die beiden zu.
»Alles in Ordnung, Schatz.« Tim atmete tief durch und schickte sie wieder weg. »Spiel schön mit Sami, ich muss noch etwas mit Tante Gemma besprechen.«
Holly ging brav zu ihrem Spielkameraden zurück, drehte sich aber immer wieder besorgt zu ihnen um. Jetzt, da die Kinderstimmen verstummt waren, fiel Gemma auf, wie still es auf der Straße war. In einer Nebenstraße rauschte ein Auto vorbei, und irgendwo jaulte ein kleiner Hund, doch auch diese Geräusche schienen gedämpft. Kein Vogelgezwitscher war zu hören. Der Abend selbst schien wie betäubt durch die dunstige Hitze, und es fiel schwer, sich die Dinge vorzustellen, die Naz Malik in einer ähnlich ruhigen Samstagnacht widerfahren waren.
»Glaubst du, dass Naz mit ihnen irgendwo hingegangen wäre?«, fragte sie Tim.
»Nein. Außer - außer wenn es um Sandra gegangen wäre. Aber die Polizei hat ja festgestellt, dass sie mit Sandras Verschwinden nichts zu tun hatten.«
»Ja, richtig«, erwiderte Gemma nachdenklich. »Aber das muss nicht heißen, dass sie nichts darüber wussten. Tim, bist du sicher, dass Naz dir sonst nichts erzählt hat? Ich weiß, dass er dein Freund war, und ich weiß, dass du nicht willst, dass irgendjemand schlecht von ihm oder von Sandra denkt, aber -«
»Nein.« Tims Flüstern klang so durchdringend wie ein Schrei. »Ich habe mir darüber schon das Hirn zermartert. Wir haben einfach nur über dies und das geredet - normale Sachen eben. Unsere Kindheit. Die Uni. Kinder. Naz sagte …« - Tim wandte sich ab - »Naz sagte, er wüsste nicht, was er tun würde, wenn er von Charlotte getrennt würde.«
Mit einem Mal sah Gemma, was Hazel so deutlich erkannt hatte.Tim hatte mindestens so dringend wie Naz jemanden gebraucht, dem er sich anvertrauen konnte. Jemanden, der Mitgefühl zeigte; der wusste, wie es war, wenn einem der Boden unter den Füßen weggerissen wurde.
Obwohl sie wusste, dass sie kein Recht dazu hatte, fragte sie: »Tim, hast du Naz von Hazel erzählt?«
»Natürlich nicht«, antwortete er ein wenig zu schnell. »Na ja, nur, dass wir uns getrennt hatten, das ist ja klar - aber sonst nichts.« Er griff wieder nach seinem Becher und starrte hinein, während er den letzten Schluck Tee darin schwenkte. Dann blickte er wieder zu ihr auf. »Gemma, ich mache mir Sorgen um Hazel. Seit sie gestern hier war, versuche ich sie anzurufen. Sie geht nicht dran, und sie ruft auch nicht zurück. Sie hat ja nur das Handy, und das müsste sie doch eigentlich immer dabeihaben.« Er schlang die Arme um die Knie und ließ den Becher am Henkel baumeln. Wie er da saß, wirkte er wie ein schlaksiger Junge, ein großes Kind. »Ich weiß, wenn ich einfach bei ihr aufkreuzen würde, wäre sie wütend auf mich - sie hat mich noch nicht mal ins Haus gebeten, als ich ihr Holly gebracht habe.«
Ein kühler Luftzug strich Gemma über die Wange, leicht wie eine Feder. Der Wind hatte umgeschlagen, und milchige Wolkenschlieren zogen vor die Sonne. Sie sah auf ihre Uhr - es war schon nach sechs, und sie hatte es plötzlich sehr eilig, nach Hause zu kommen, obwohl sie auf dem Weg nach Islington schon kurz mit Kit und Toby gesprochen hatte. Sie hatte das irrationale Bedürfnis, ihre Lieben um sich zu scharen, wie eine Glucke ihre Küken, und sie wollte mit Duncan reden. Er hatte sie noch nicht angerufen, seit sie sich vor Alias Haus getrennt hatten.
»Ich würde mir keine Gedanken machen«, sagte sie zu Tim. »Aber ich ruf sie an, und dann sage ich ihr, dass sie sich bei dir
melden soll.« Ihre Freundschaft war immer etwas distanziert gewesen, aber nun lehnte sie sich spontan zu Tim herüber und drückte ihm einen Kuss auf die bärtige Wange. »Sonst kann sie was erleben.«
Sie hatte Hazel erst von zu Hause aus anrufen wollen, doch das Bild ihrer Freundin, wie sie sie am Sonntag erlebt hatte - abgemagert und ungepflegt, dünnhäutig und unbeherrscht -, ging ihr nicht aus dem Kopf und zerrte so an ihren Nerven, dass sie sich nicht aufs Fahren konzentrieren konnte. Sie bog von der Caledonian Road ab und hielt in einer ruhigen Straße in der Nähe des Kanals.
Zwar hatte sie Tim gesagt, er solle sich keine Sorgen machen, doch sich selbst hatte sie damit nicht beruhigen können.Warum hatte sie
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