Wenn Die Wahrheit Stirbt
waren?«
»Aber das alte East End in seinen Glanzzeiten, das hatte doch sicher was«, meinte Cullen. »Die Kray-Zwillinge -«
»Brutale Schweine. Ich habe mit Leuten gearbeitet, die mit eigenen Augen gesehen haben, was die Krays angerichtet hatten - die haben Geschichten erzählt, da stellt’s einem die Nackenhaare auf. Nein« - Weller ließ den Blick über die Gästeschar schweifen -, »den Krays und ihresgleichen weine ich keine Träne nach, aber dass die Gauner heutzutage weniger leicht zu erkennen sind, heißt noch lange nicht, dass es sie nicht gibt.«
»Was ist mit diesem Ahmed Azad, den Naz Malik und seine Partnerin verteidigt haben?«, fragte Kincaid.
»Oh, der ist allerdings ein Gauner, aber wesentlich kultivierter als die Gangster alten Schlags. Als Teenager eingewandert, hat er sich im Restaurant eines Verwandten hochgearbeitet und gleichzeitig Abendkurse in Englisch und Buchhaltung absolviert. Heute gehört ihm das Restaurant, und er führt es gut. Ist mit allen Wassern gewaschen, der Alte, und in beiden Kulturen gleichermaßen zu Hause.«
»Klingt, als ob Sie ihn gut kennen.«
»In den meisten Fällen war er selbst der Kläger - wenn die weißen Banden in der Brick Lane mal wieder alles kurz und klein geschlagen hatten. Und es wird zwar gemunkelt, dass er die Finger in allen möglichen fragwürdigen Geschäften hat, aber mit Mord ist er meines Wissens noch nie in Verbindung gebracht worden.«
»Louise Phillips hat uns erzählt, dass der wichtigste Zeuge der Anklage in einem Verfahren gegen ihn wegen Menschenhandels verschwunden sei. Wenn Azad dafür verantwortlich ist und Naz Malik dahintergekommen ist -«
Weller hob die Schultern. »Wenn Malik glaubte, dass Azad einen Zeugen hatte verschwinden lassen, dann hätte er vielleicht das Mandat niedergelegt, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Azad seinen eigenen Anwalt beseitigen würde. Da könnte er doch gewisse Schwierigkeiten bekommen, wenn er irgendwann noch mal einen Rechtsvertreter brauchen sollte.«
»Und wenn Malik glaubte, dass Azad etwas mit Sandras Verschwinden zu tun hatte?«
»Es gab keine Verbindung zwischen Sandra Gilles und Azad.«
»Keine, von der Sie wissen.« Kincaid sah Weller fest in die Augen. »Das mit Lucas Ritchie haben Sie auch nicht gewusst.«
»Wir haben jeden befragt, der unmittelbar mit Sandra Gilles zu tun hatte. Aber wir hatten keine Hinweise darauf, dass tatsächlich ein Verbrechen begangen worden war. Wir hatten keine Veranlassung, die Liste ihrer Kunden durchzugehen.«
»Wenn Sie nicht glauben würden, dass Sie etwas übersehen haben oder dass es eine Verbindung zwischen dem Verschwinden der Frau und dem Mord an ihrem Mann gibt, dann hätten Sie uns nicht eingeschaltet.«
Einige Sekunden lang starrte Weller ihn taxierend an, dann entspannten sich seine Schultern, und er leerte sein Bierglas. »Eins zu null für Sie«, sagte er, während er sein Glas sorgfältig in der Mitte des Bierdeckels ausrichtete. »Rashid hat mir den Toxikologiebericht geschickt. Wenn er richtigliegt - und das tut er meistens, der kleine Streber -, dann wäre es ein sehr merkwürdiger Zufall, dass drei Monate nach Sandra Gilles’ Verschwinden jemand einfach so ihren Mann ermordet. Aber wen ich ganz oben auf die Liste der Verdächtigen setzen soll, kann ich verdammt noch mal nicht sagen.«
»Wie wär’s, wenn wir mit Azad anfangen?«, schlug Kincaid vor.
Weller runzelte die Stirn. »Das ist ein ganz Aalglatter, unser Mr. Ahmed Azad. Ich glaube nicht, dass Sie da sehr weit kommen werden.« Er schob sein leeres Glas weg. »Aber ich kann
Sie mit ihm bekanntmachen, wenn Sie wollen. Er wohnt gleich hier um die Ecke.«
Gemma war sich nicht sicher, ob ihr Anruf bei Janice Silverman sie beruhigt oder im Gegenteil ihre Sorgen um Charlotte noch verstärkt hatte.
»Oh, wegen der Schwester machen Sie sich mal keine Gedanken«, hatte Silverman gesagt. »Wir haben sie überprüft. Es liegen schon ein halbes Dutzend Beschwerden über sie vor - Vernachlässigung ihrer Erziehungspflichten, häufig wechselnde Männerbekanntschaften, und ihre drei kleinen Jungen sind auch schon mal mit unerklärlichen blauen Flecken in die Schule gekommen.«
»Sie hat ihre Kinder noch?«
»Vorläufig ja, obwohl sie schon mehrmals vorübergehend in Pflege waren.« Sie seufzte. »Wir können ja nicht halb London permanent in Pflegefamilien unterbringen, also tun wir eben, was wir können. Die zuständige Betreuerin sucht sie regelmäßig auf.«
Gemma
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