Wenn Die Wahrheit Stirbt
anderen, was Cullen vor die unangenehme Wahl stellte, sich entweder neben Azad setzen oder stehen zu müssen. Er entschied sich für Letzteres, trat ein paar Schritte zurück und gab sich den Anschein beflissener Untätigkeit.
Azad musterte Kincaid mit seinen dunklen, intelligenten Augen. »Und wen haben Sie da mitgebracht, Inspector Weller?«
»Superintendent Kincaid, Sergeant Cullen.« Weller erwähnte nicht, dass sie von Scotland Yard waren, doch bei der Nennung seines Dienstgrads glaubte Kincaid ein berechnendes Flackern in Azads Blick zu erkennen.
»Ein Superintendent«, wiederholte Azad mit beifälligem Nicken. »Nun, das hat Nasir Malik durchaus verdient, dass ein Superintendent mit der Aufklärung dieses Verbrechens betraut wird. Dies ist ein gesetzloses Land, Mr. Kincaid. So etwas wäre in Bangladesch niemals passiert.«
»Was genau ist Ihrer Meinung nach denn mit Naz Malik passiert, Mr. Azad?«, fragte Kincaid. Immerhin waren, was die Todesursache betraf, selbst die ermittelnden Beamten bisher auf Spekulationen angewiesen.
Doch Azad ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Er wurde tot im Park aufgefunden«, antwortete er. »Ich nahm an, dass er von Jugendlichen überfallen wurde. Diese jungen Menschen
haben keinerlei Respekt, und ich muss leider sagen, dass darunter auch einige Bangladeschis sind.« Er schüttelte mit resigniertem Bedauern den Kopf, ganz wie ein nachsichtiger Onkel. »Nasir war ein guter Mensch, wenn er auch bisweilen fragwürdige Entscheidungen getroffen hat.«
Weller legte den Kopf schief wie ein großer, etwas zerrupfter Vogel. »Entscheidungen?«
Azad hob die Schultern. »Ich will niemandem zu nahe treten, Inspector, aber Nasir hat eine weiße Frau geheiratet. Eine Ehe zu führen ist schwierig genug, auch ohne ethnische und kulturelle Differenzen.«
»Malik hat den größten Teil seines Lebens hier verbracht«, sagte Weller. »Auf mich wirkte er sehr englisch.«
»Kannten Sie Sandra Gilles, Mr. Azad?«, fragte Kincaid.
»Selbstverständlich kannte ich Sandra. In und um die Brick Lane kannte sie jeder. Sie war oft in meinem Restaurant.«
»Sie mochten sie nicht?«
Azad wirkte gereizt. »Von mögen habe ich nichts gesagt, Mr. Kincaid. Es war lediglich eine Frage dessen, was sich gehört. Und sie hat Schande über Nasir gebracht.«
»Schande? Inwiefern?«
»Ein Mann muss in der Lage sein, eine Frau zu ernähren, Mr. Kincaid.«
»Sie glauben also, dass Sandra Naz freiwillig verlassen hat, Mr. Azad?«
Wieder zuckte Azad mit den Achseln, diesmal schon merklich ungehaltener. »Das scheint mir die naheliegendste Erklärung zu sein.«
»Wieso das - Sie haben doch gleich vermutet, dass Malik von einer Gang getötet wurde?«
»Weil Sie zwar den armen Nasir gefunden haben, nicht aber Sandra«, erwiderte Azad, als wäre seine Logik absolut unangreifbar.
»Vielleicht ist sie jetzt dort, wo auch Ihr Neffe ist - oder war es der Großneffe?«, sagte Weller gedehnt.
Azads ausgeprägte Tränensäcke zuckten leicht, und obwohl er sich nicht rührte, wirkte seine ganze Haltung schlagartig angespannt. »Es war mir ein Vergnügen, mich mit Ihnen zu unterhalten, Mr. Weller, aber wenn Sie über meine Privatangelegenheiten sprechen wollen, denke ich doch, dass mein Anwalt zugegen sein sollte.«
»Das wäre dann Miss Phillips, oder?«, entgegnete Weller. »Es muss Ihnen doch sehr ungelegen kommen, gerade jetzt, wo Ihr Prozess ansteht, einen Ihrer Anwälte zu verlieren. Und ich frage mich ja schon«, fügte er hinzu, »wie wohl Ihnen bei dem Gedanken ist, auf eine Frau als einzige Rechtsvertreterin angewiesen zu sein.«
Azad erhob sich lächelnd. »Ich danke Ihnen für Ihren Kondolenzbesuch zum Tod meines Freundes, meine Herren. Wenn Sie Ms. Phillips morgen früh anrufen, können wir uns bestimmt auf einen Termin zur Fortsetzung unserer Unterredung einigen, der für beide Seiten passend ist. Und nun darf ich Sie noch zur Tür begleiten.«
Gemma hatte beschlossen, zuerst heimzufahren und nach den Jungs zu sehen, ehe sie entschied, was sie wegen Hazel unternehmen wollte. Im Haus war alles still, und als sie eintrat, stieg ihr köstlicher Backduft in die Nase.
Weder die Jungs noch die Hunde kamen sie begrüßen. Kein Fernsehlärm, keine Stimmen - allerdings konnte sie, wenn sie still stand und lauschte, leises Geschirrklappern aus der Küche vernehmen.
»Jemand zu Hause?«, rief sie, während sie ihre Tasche auf der Bank in der Diele abstellte.
»Hier bin ich«, antwortete eine
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