Wenn Die Wahrheit Stirbt
ihr Gemma, die ihren Gefühlsausbruch schon bereute. »Ich habe sie vor einer Stunde noch gesehen. Aber du dürftest ungefähr fünfzig Millionen Nachrichten von Tim und mir auf der Mailbox haben.« Gemma fiel auf, dass ihre Freundin immer noch hager aussah, doch sie hatte sich die Haare gewaschen, und ihre Kleider waren sauber. »Geht es dir denn gut?«, fragte sie, nachdem ihre Wut schon fast wieder verflogen war.
»Ehrlich gesagt - ich weiß es nicht so genau«, erwiderte Hazel stockend. »Aber ich denke schon.«
Gemma starrte sie verwirrt an. »Wir müssen reden.« Sie
spähte die Straße auf und ab, sah Reihen von parkenden Autos, deren Blech in den Strahlen der immer noch grellen Abendsonne glühte, aber nirgendwo ein ruhiges Plätzchen zum Hinsetzen. »Lass uns zurück zum Haus fahren. Oder wir könnten auch bei Otto etwas trinken.«
»Nein, ich - Später vielleicht.« Hazel schwankte ein wenig. »Irgendwie habe ich plötzlich das Gefühl, als hätte ich Pudding in den Knien.«
Gemma dachte einen Moment nach, dann hakte sie sich bei Hazel ein. »Komm, wir gehen ein bisschen spazieren. Ich habe eine Idee.« Sie führte Hazel um die Ecke in die Portobello Road und wandte sich nach Norden. Der Rhythmus ihrer Schritte glich sich an, und nach einigen Minuten spürte Gemma, dass Hazels Gang wieder ein wenig fester wurde. In der Tavistock Road spendeten Bäume willkommenen Schatten, doch Gemma zog Hazel weiter, in den Schatten der tunnelartigen Westway-Unterführung.
»Holen wir uns einen Saft«, sagte sie und führte Hazel in einen Naturkostladen, eines der kleinen Geschäfte in der Passage unter der Autobahn.
Gemma kaufte für sie beide Mango-Orangensaft in Plastikflaschen. Dann führte sie Hazel hinaus auf die andere Seite der Unterführung und weiter auf die rechteckige Grünfläche von Cambridge Gardens.
Ohne das bunte Durcheinander der Buden vom Samstagsmarkt wirkte der kleine Park verlassen, aber ein Stück weiter entlang der parallel verlaufenden Arkaden nutzten ein paar jugendliche Skater den menschenleeren Gehsteig für ihre Übungen. Das Dröhnen des Verkehrs über ihnen mischte sich mit dem Rattern der Skateboardräder zu einem irgendwie beruhigenden Hintergrundrauschen. Gemma wählte die Bank, die am wenigsten mit den Hinterlassenschaften der Tauben verunziert schien, setzte sich und zog Hazel an ihre Seite.
Sie schraubte den Deckel ihrer Saftflasche ab, nahm einen Schluck und drehte sich zu ihrer Freundin um. »Jetzt erzähl schon.«
Hazel trank, schloss die Augen und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Das ist gut. So - so mango . Mir war nie bewusst, dass der Geschmack von Mangos mit nichts anderem zu vergleichen ist.«
»Hazel -«
»Ich weiß - Es - Ich weiß nur nicht so recht, wie ich es erklären soll … Darüber zu reden, wie ich mich gefühlt habe - wie ich mich fühle - das kommt mir auf einmal total egoistisch vor. Ich habe so schon genug Schaden angerichtet dadurch, dass ich nur an mich gedacht habe.«
»Du musst mir gegenüber nicht die Therapeutin herauskehren. Erzähl mir einfach, was passiert ist«, sagte Gemma geduldig. »Fang mit dem Handy an.Warum hast du es ausgeschaltet?«
Hazel schüttelte den Kopf. »Ich - Du wirst bestimmt denken -« Sie sah Gemmas strenge Miene und setzte hastig hinzu: »Okay, okay. Es war am Sonntag. Nachdem ich von Islington nach Hau-… nachdem ich zum Bungalow zurückgefahren war. Ich war so wütend. Auf dich, auf Tim, auf mich selbst.«
»Auf mich?«, fragte Gemma verblüfft.
Hazel sah sie an und lächelte schwach. »Du wolltest mich am Samstagabend nicht dabeihaben, in dem Haus in der Fournier Street.«
Das stimmte, wie Gemma sich mit einem Anflug von Schuldbewusstsein erinnerte. »Aber Hazel, ich wusste doch nicht, was passiert war. Ich musste -«
»Oh, ich weiß, du hattest gute Gründe, berufliche Gründe. Aber die Wahrheit ist, dass du dich darüber hättest hinwegsetzen können, wenn du nur gewollt hättest. Ich habe mich aufgeführt wie die letzte Zicke, und du wolltest mich nicht dabeihaben. Und ich wusste es.« Als Gemma erneut protestieren
wollte, legte Hazel ihr die Hand auf den Arm. »Nein, lass mich ausreden. Ich wusste es, aber ich konnte einfach nicht anders. Ich war eifersüchtig auf diese Familie, auf diese armen Menschen. Und am Sonntag, auch als ich schon wusste, dass er tot war - Tims Freund -, da wurde es nur noch schlimmer. Ich kam mir vor wie - ach, ich weiß nicht - als ob eine schwarze, ölige Masse
Weitere Kostenlose Bücher