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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Aehnlich
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Wortschöpfung nicht selbst eingefallen war, umso mehr zollte er Lindenberg dafür Respekt. Mick liebte das Album vor allem wegen der deutschen Version von »Sympathy for the Devil«.
    »Ich lachte laut, weil Lügner regier’n / sie schaffen Götzen, für die ganze Völker krepier’n«. Als Livehaftiger stand Mick auf Fausts Schreibtischstuhl und sang den Titel lauthals mit. »So wie der Frömmste fallen kann / und jeder Sünder heilig ist / nenn du mich Engel Luzifer«, Mick sang sich in Ektase, der Stuhl schwankte, und Mick fiel livehaftig direkt auf den Plattenspieler.
    Nur der Einsatz der hochschwangeren Frau Pulver, die ihren dicken Bauch schützend zwischen Mick und den Bühnenmaler schob, verhinderte eine Schlägerei.
    Udo lieferte auch den Soundtrack zu Frau Pulvers Wehen. Es war Sonnabendnacht, bis zum errechneten Entbindungstermin waren es nur noch drei Wochen, und Frau Pulver hatte die Parole ausgegeben, dass sie auf Vorrat feiern wollte, denn was »danach« kam, wusste keiner. Also belagerten sie die Wohnung des Bühnenmalers,tranken ungarischen Rotwein, den er auf Frau Pulvers Anweisung brav aus der Theaterkantine herangeschafft hatte, und sangen Lindenberg-Lieder. Sie brüllten: »Schon wieder alles klar auf der Andrea Doria!«, und Frau Pulver schrie zustimmend: »Uaah!« Erst als sie sich dabei krümmte, wurde ihnen allen klar: Es war so weit!
    Was folgte, war Konfusion. Niemand hatte ein Auto, niemand hatte ein Telefon. Und wo war überhaupt die Tasche für die Klinik? Mick rannte auf die Straße, um eine intakte Telefonzelle zu finden oder, was noch unwahrscheinlicher schien, ein Taxi anzuhalten. Es war morgens um drei Uhr, und selbst die Chancen, ein Schwarztaxi zu bekommen, standen ausgesprochen schlecht. Die Rettung war eine Straßenkehrmaschine. Schon als Studenten hatten sie diese Form der Beförderung oft in Anspruch genommen. Auf Straßenkehrmaschinen war Verlass, sie fuhren regelmäßig in den frühen Morgenstunden, wenn alle Straßen leer waren. Zwar hatte jeder Fahrer einen vorgeschriebenen Radius von wenigen Straßen, aber die Wahrscheinlichkeit, eine Anschlusskehrmaschine zu bekommen, war hoch. Doch sie mussten sich darüber keine Gedanken machen, denn der freundliche Fahrer deklarierte die bevorstehende Entbindung als einen Notfall, der ihn berechtigte, von seiner Route abzuweichen, und brachte die stöhnende Frau Pulver samt ihrer Erstausstattungstasche blinkend und hupend direkt bis vor die Krankenhaustür. Alle anderen versuchten das Ziel mehr oder weniger schnell rennend zu erreichen. Als Roswitha, Mick, Zappa und der Bühnenmaler eintrafen, lag Frau Pulver schon im Kreißsaal. Trotz vehementer Beteuerungen, dass sie alle »dazugehören« würden, ließ sich die gestrenge Nachtschwester nicht erweichen und verwehrte ihnen den Zutritt.
    Sie saßen in der Morgendämmerung auf den Bänken im Krankenhauspark und schlossen Wetten ab, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden würde. Ebenfalls ungeklärt war noch immer die Namensfrage. Mick hatte vorgeschlagen, das Mädchen Etta und den Jungen James zu nennen. Doch das war von dem Bühnenbildner, der Schulze hieß und wahrscheinlich auf eine Heirat hoffte, abgewählt worden. Zu Recht, denn »James Schulze« war ein Zungenbrecher. »Woodstock« dagegen fanden alle toll, weil es so schön symbolisch war und in genialer Weise sowohl für einen Jungen als auch für ein Mädchen gepasst hätte. Doch sie sahen ein, dass kein sozialistisches Standesamt bereit sein würde, diesen Namen in sein Register einzutragen. »Janis« war von Frau Pulver selbst abgelehnt worden, die an die Verwechslung des Polstermeisters erinnerte und nicht wollte, dass ihre Tochter für einen griechischen Schlagersänger gehalten wurde. Auch »Udo«, der Vorschlag des Bühnenmalers, fand keine weiteren Anhänger. Alle halbe Stunde losten sie aus, wer der Nachtschwester mit einer Nachfrage auf den Geist gehen musste. Kurz vor acht Uhr war es endlich so weit; Zappa überbrachte die Botschaft: »32 Zentimeter, 3250 Gramm!«
    »Und?«, schrien alle.
    »Rainer Maria!«
    »Was denn nun?«, fragte der Bühnenmaler. »Rainer oder Maria?«
    Rilke war ein ausgesprochen stilles Kind, das friedlich in seinem Bettchen lag und verklärt lächelte. Immer zufrieden, dankbar über jede Zuwendung. Er roch nach Babycreme und, weil er ständig sabberte, auch etwas säuerlich. Wenn Roswitha ihn auf dem Arm hielt, spürte sie, wie der Atem durch seinen Körper floss. Erhatte eine weiße,

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