Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat
ihm ein zweites Hinweisschild entgegen, es schien auch selbstleuch-tend zu sein, und darauf stand:
MAXIMALE HOEHE 1,5 METER
Da es in wenigstens drei Meter Höhe hing, log es offensichtlich, und Blondel beachtete es nicht. Falls man ihn auf diese Weise einschüchtern wollte, klappte das nicht.
Er hatte schon sehr viel schlimmere Dinge erlebt, gegen die das hier stinklangweilig erschien.
Ein Geräusch hinter ihm – ein leichtes Knarren –
ließ ihn erschrocken herumfahren, und in etwa einhundert Meter Entfernung sah er ein Schiff vorbei-segeln. Er hatte keinen Grund zur Vermutung, daß sich dahinten Wasser befand, zumindest nicht ausreichend Wasser, um ein flämisches Handelsschiff aus dem fünfzehnten Jahrhundert zu tragen, und deshalb verdrängte er diesen Gedanken. Nichtsdestotrotz drehte das Schiff ab und verschwand. Kin-derkram. Falls hier jemand für ihn absichtlich eine Show abzog, dann hatte das allenfalls Vorschulni-veau.
Nach einer Steigung wurde das Gelände plötzlich leicht abschüssig, und Blondel hatte auf einmal das Gefühl, auf Wellen zu gehen; unsichtbare, knochen-trockene und steinharte Wellen zwar, doch wenn er stehenblieb, spürte er genau, wie sie sehr langsam auf- und abstiegen. Ein englisches Freibeuterschiff 175
dümpelte durch die Dunkelheit relativ dicht an ihm vorbei, trotzdem war es für ihn zu weit entfernt, als daß er irgendwelche Identifizierungsmerkmale hätte erkennen zu können. Doch verstand er sehr gut, was die Seeleute sangen.
»Por il maintaindrai l’us
D’Eneas et Paris
Tristan et Pyramus
Qui amerent jadis.«
Nur mit Mühe gelang es ihm, den Mund zu schlie-
ßen, der die ganze Zeit vor Staunen offengestanden hatte.
Dann nahm er sich ein Herz und lief auf das Schiff zu. Die Besatzung sang:
»Or serai ses amis
Or pri Den de la sus
Qu’a lorfin soie pris …«
… dann eine Zeile, die ihm nie besonders gefallen hatte. Er konnte jetzt das Schiff genauer ausmachen; ein schweres Langstreckenschiff mit dem Wimpel der Cinque Ports und dem Wappen von Winchelsea, und die Crew sang unverdrossen weiter:
»L’Amours Dont Sui Epris
Me semont de chanter.«
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Blondel atmete tief durch und rief mangels besserer Einfalle: »Ahoi!« Warum auch nicht? Er wartete ab, doch das Schiff machte noch immer Fahrt. Dann änderte es den Kurs und schwenkte leicht zu ihm herum.
Blondel hörte ein dumpfes Klatschen und erkannte, daß man ein kleines Boot zu Wasser gelassen hatte.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?« rief ihm der Mann in dem Boot entgegen.
»Ja«, rief Blondel zurück. »Warum haben Sie eben dieses Lied gesungen?«
»Ich werde Ihnen ein Seil rüberwerfen«, sagte der Mann. »Treten Sie Wasser, bis ich Sie einholen kann.«
Blondel wollte erst sagen, er trete die ganze Zeit auf Wasser, besann sich dann aber eines Besseren.
Statt dessen bedankte er sich bei dem Mann und blieb dort, wo er war. Kurz darauf war das Boot für den Mann nahe genug herangekommen, daß er ihm ein Seil zuwerfen konnte, dessen Ende Blondel auffing. Dann ging er zum Boot und stieg hinein.
»Ahoi!« begrüßte er den Mann freundlich.
Der Mann musterte ihn einen Augenblick lang; er wirkte sehr besorgt und fragte: »Wissen Sie, wo wir sind?«
Blondel lächelte. Der Mann machte nicht gerade den Eindruck, als könnte er die Wahrheit vertragen; andererseits sollten Leute, die mit schwierigen Antworten nicht klarkommen, auch keine schwierigen Fragen stellen. Dennoch entschied sich Blondel, es ihm so sanft wie möglich beizubringen.
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»Das weiß ich selbst nicht so genau, aber ich habe so ein Gefühl, als wären wir in den Archiven.«
»In den Archiven also?« grummelte der Mann.
»Richtig.«
»Sie meinen nicht etwa die Malediven?«
»Nein, auf keinen Fall die Malediven. Die Archive sind etwas ganz anderes. Obwohl ich mir, wie ich schon gesagt habe, nicht unbedingt sicher bin.«
Blondel hielt kurz inne und fragte dann: »Sind Sie ans Ende der Welt gesegelt?«
Der Mann nickte.
»Habe ich’s mir doch gedacht. Jemand hat Ihnen in irgend so einer Kaschemme erzählt, die Erde sei rund, und wenn Sie immer gen Westen segeln, würden Sie in Indien landen, stimmt’s?«
Der Mann nickte erneut.
»Und Sie haben darüber nachgedacht und sind zu dem Schluß gekommen: Ja, so muß es sein. Sonst müßte sich nämlich das ganze Meer längst über den Rand ergossen haben, und dann dürfte es kein Wasser mehr geben. Deshalb sind Sie losgesegelt, haben das Ende der Welt erreicht und sind selbst über den
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