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Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat

Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat

Titel: Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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etwas Ähnliches übriggeblieben. Die Gewohnheiten von Elektrikern dieser ganz bestimmten Gattung lagen zwar außerhalb seines unmittelbaren Wissens, doch die Regeln ihrer Zunft änderten sich nie: Falls diese Elektriker hier auch nur ansatzweise etwas mit denen aus seiner Zeit zu tun hatten, dann taten sie keinen Handschlag, wenn sie nicht mit einer adäqua-ten Menge Käsebrötchen ausgestattet worden waren
    – das Brötchen zumeist weich wie Gummi und die Käsescheibe an den hervorstehenden Ecken schon leicht ranzig; wenn auch nicht genießbar, so doch eßbar, jedenfalls im weitesten Sinne des Wortes.
    Plötzlich verharrte er im Schritt; auf einem der Mittelplätze in einer der mittleren Reihen saß ein Mann, der nur zur Hälfte da war.
    Guys Mutter hatte ihm drei Lebensregeln für kul-tiviertes Benehmen beigebracht, und seine Fähigkeit, diese hin und wieder nicht zu beachten, bewies, daß 304
    er sich als menschliches Wesen in einer realen Welt recht gut zurechtfand. Die drei Regeln lauteten: 1. Sich niemals in einer Schlange vordrängeln.
    2. Niemals mit vollem Mund sprechen.
    3. Niemals jemanden angaffen.
    Zur ersten Regel: Wenn er sie jemals strikt beachtet hätte, dann stünde er noch heute am Ende der Schlange vor der Poststelle in der Garner Street und würde darauf warten, für das Weihnachtsfest 1931
    zehn Karten mit dem Stempel bevorzugt befördert kaufen zu können.
    Zur zweiten Regel: So, wie sich die Lage derzeit darstellte, stünden die Chancen für deren Einhaltung relativ hoch. Und zur dritten Regel: Als seine Mutter diese Regel aufstellte, hatte sie die Möglichkeit, daß Menschen nur halb vorhanden sein könnten, offenbar nicht in ihre Überlegungen mit einbezogen. Guy gaffte.
    Dem Mann – Guy konnte ihn klar und deutlich sehen, obwohl er relativ weit entfernt saß – schien es überhaupt nichts auszumachen, nur zu fünfzig Prozent anwesend zu sein. Er lachte wohl gerade über einen Witz, und mit der Hand holte er Erdnüsse aus einer Tüte hervor, die er vorsichtig auf dem Knie ba-lancierte. Erdnüsse!
    Guy verbannte den Gedanken an Erdnüsse aus seinem Gehirn. Im Publikum saßen zwar viele merkwürdig aussehende Leute – die Gruppe, die in 305
    der ersten Reihe saß, war ihm zum Beispiel außerhalb eines Buck Rogers-Comics in der Morgenzei-tung noch nie zuvor vor die Augen gekommen –, aber keiner sah so absurd wie dieser Mann aus, der genau in der Mitte gespalten war. Die Trennlinie verlief die Stirn hinunter über Nase, Mund und Kinn, spaltete den Hals und zog sich bis zum Hemd hinunter; ein echter Durchschnittsbesucher. Guy verspürte das dringende Verlangen, nicht herauszufinden, wie der Mann im rechten Profil aussah.
    »Ich sollte lieber Blondel informieren«, murmelte er vor sich hin.
    Er stieg die Treppe zur Bühne hinauf und ging durch die hintere Tür, die zu den Garderoben führte.
    Bestimmt hätte er seinen Zielort erreicht und Blondel davon unterrichtet, was er gesehen hatte, und so den Verlauf der vergangenen und zukünftigen Weltgeschichte dramatisch verändert, wenn ihm nicht eine fremde Gestalt ins Auge gefallen wäre, die mit einem ganzen Tablett voll einzigartiger Schweinepasteten wie ein Schatten durch die Kulissen huschte. Guy änderte jäh die Richtung und folgte ihr.
    Unnötig zu erwähnen, daß es sich bei dem Mann mit der Schweinepastete um Pursuivant handelte und er keinen Hut trug.
    Guy gab ein Grunzen von sich und versuchte, die Beine zu bewegen. Sinnlos.
    Entweder aus Ironie oder aus Mitleid hatte man ihm mit einem Schinkensandwich von gigantischen 306
    Ausmaßen, das aus drei Lagen Toast bestand, das Maul gestopft. Auf jeden Fall war es zu groß, um es ohne Zuhilfenahme der Hände zu essen. Mit der Zunge konnte er das Vorhandensein von Tomaten, Kresse, Salatgurke, grünem Pfeffer und süßem Senf schmecken. Schließlich stellte er das Grunzen ein und versuchte es mit lautem Knurren.
    Natürlich hatte er keine Chance, gehört zu werden; nicht bei dem Lärm, der draußen herrschte. Dabei handelte es sich nicht einmal um einen unangenehmen Lärm – Blondel sang gerade die besten Nummern aus dem Weißen Album, und etliche Male hätte Guy sogar aufgehört, sich zu quälen, und vor Bewunderung nur mit offenem Mund dagesessen, wenn dieses Riesensandwich nicht dortgewesen wäre –, doch aufgrund der riesigen Verstärkeranlage, der allgemeinen akustischen Bedingungen und Blondels natürlicher Stimmgewalt war die Wahrscheinlichkeit, daß jemand seine Grunzlaute hörte,

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