Wenn du lügst
weniger weggetreten, fast so, als würde sie aufwachen oder so was. Am Anfang hatte es sich nicht wie eine Sache angefühlt, der man trauen konnte - wie dumm musste man sein, um wegen ein paar E-Mails aus dem Häuschen zu geraten? Aber jetzt … es war schwer zu beschreiben. Die alten Gefühle gegenüber ihrer Mutter schienen sich zu lockern - dieses harte, knotenartige Ding, das zuvor immer in ihr gewesen war. In letzter Zeit war da etwas anderes, irgend
so ein flatterndes Gefühl, fast eine Art Hoffnung, aber sie wagte nicht, ihm zu trauen.
Sie öffnete die E-Mail.
Hallo Lily, ich wollte Dir sagen, dass ich heute einen kleinen Kater gekauft habe. Ich habe über einen Namen nachgedacht, aber dann hab ich mir überlegt, dass Du das vielleicht übernehmen möchtest. Ich weiß, dass Du Dir schon immer einen gewünscht hast, Schätzchen, und es tut mir leid, Dir nicht schon früher einen besorgt zu haben. Irgendwie konnte ich mich in diesem Punkt nie bei Jerry durchsetzen - in überhaupt keinem Punkt. Aber es wird allmählich leichter. Er hat mir auch diesmal verboten, einen zu kaufen, aber ich sagte, dass ich es trotzdem tun würde und ihm besser nichts Schlimmes zustoßen sollte. Er ist orange-schwarz und sehr süß. Hast Du irgendwelche Namensvorschläge?
Übrigens hat er mich jetzt schon lange nicht mehr geschlagen. Ich schätze, dass Du weg bist, hat ihn endlich wachgerüttelt. Ich hoffe, Du kannst das Kätzchen bald sehen.
In Liebe, Mom.
Genau, dachte Lily, als ob es Jerry einen Scheiß interessiert, dass ich weg bin. Sie las die letzte Zeile noch einmal. Himmel, was hatte ihre Mutter da geschrieben - dass sie das Kätzchen hoffentlich bald sehen könnte? Würde sie nach Hause zurückgehen? Aber nicht, solange Jerry da war. Selbst wenn er ihre Mutter nicht mehr schlug, wollte sie nie wieder mit dieser Termite unter einem Dach leben.
Lily wollte nicht über eine Heimkehr nachdenken. Sie wollte sich definitiv keine Hoffnungen machen. Es
lohnte sich nicht, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Was sollte sie also antworten? Sie zögerte. Wovon sie ihrer Mutter heute wirklich erzählen wollte, war Mandy. Dass Mandy sie im Stich gelassen hatte und das alles.
Aber konnte sie das tun? Ihre Mutter wusste nicht das Geringste von Mandy. Wenn sie ihrer Mutter davon erzählte, würde sie ihr den Grund verraten müssen. Sie war sich ziemlich sicher, dass ihre Mutter sie nicht in irgendeiner Gefahr wissen wollte. Während der ganzen Zeit, die Jerry inzwischen bei ihnen lebte, hatte er nicht ein einziges Mal die Hand gegen sie erhoben, und sie war sich ziemlich sicher, dass dahinter irgendeine Vereinbarung steckte, die ihre Mutter mit ihm geschlossen hatte.
Aber wenn sie es ihr erzählte, würde ihre Mom dann Breeze anrufen und verlangen, dass sie zu Betsy zog? Betsy besaß noch nicht mal einen Computer. Ohne Computer konnte sie nicht mit ihrer Mutter kommunizieren. Irgendwo tief in ihr lauerte - so hart und glatt wie eine Murmel - die Angst, dass sie ihre Mutter nie zurückbekommen würde, wenn sie sie jetzt verlor. Vielleicht würde sie sie noch nicht einmal wiedersehen.
Darüber wollte sie ebenso wenig nachdenken. Aber vielleicht könnte sie ein kleines bisschen von Mandy erzählen, wenn sie die ganze Sache herunterspielte. Sie wollte wirklich darüber reden.
Langsam begann sie zu schreiben:
Hallo Mom, ich habe eine Idee für einen Namen, aber er ist irgendwie ein bisschen albern, deshalb musst Du ihn nicht nehmen. Ich habe
mir überlegt, dass er Blackbeard heißen könnte. Hier bin ich ja im Moment, auf Blackbeard’s Isle, deshalb habe ich mich gefragt, ob Du findest, dass es ein guter Name für ein Kätzchen wäre. Ich denke mir noch ein paar andere aus, wenn er Dir nicht gefällt.
Heute ist etwas passiert, wovon ich Dir erzählen möchte. Es ist keine große Sache, aber für eine Weile war eine Freundin von Breeze namens Mandy hier auf der Insel. Irgendein Typ hat Breeze bedroht, und Mandy ist Polizistin, deshalb hat sie sozusagen ein bisschen auf Breeze aufgepasst, um sicherzugehen, dass dieser Typ sie nicht belästigt. Aber dann kam Mandy etwas anderes dazwischen, und sie ist einfach weggefahren. Es ist wirklich keine große Sache, aber ich glaube, sie hat Breeze’ Gefühle verletzt. Es war seltsam, als sie einfach so weg ist.
Sie las es noch einmal durch, und es schien okay zu sein. Es hörte sich nicht so an, als ob sie in irgendeiner Gefahr schweben würde, also würde ihre Mutter hoffentlich
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