Wenn du mich brauchst
ein bisschen eklig, Han. Ich kenne sie doch gar nicht.«
Wieder schwieg ich.
»Han?«, fuhr mein kleiner Bruder unbarmherzig fort.
»Was?«
»Schwester Betsy sagt immer zu mir: ›Pass auf, Honey, bald kommt deine richtige Schwester und hilft dir.‹«
Ich schluckte.
»Wie sie wohl aussieht? Glaubst du, sie ist nett?«
Ich biss mir auf die Lippen und schwieg und schwieg und schwieg.
»Sie war in Imas Bauch. Nach David und vor mir. Sie könnte nett sein! Sie war der Kaiserschnitt. Nicht du.«
Es war zum Verrücktwerden und ich war froh, als Hayley mich ablöste.
»Wie kommst du nach Hause, Hannah?«, fragte sie mich.
»Sharoni holt mich ab«, sagte ich und packte meine Sachen.
»Du sollst nicht gehen«, jammerte Jonathan.
»Ich komme übermorgen wieder«, antwortete ich mechanisch. Wir hatten seit ein paar Tagen einen Wer-ist-wann-bei-Joni-Plan im Wohnzimmer hängen.
»Und was machst du mit Shar?«, fragte Jonathan.
»Geschichte lernen«, antwortete ich. Wir würden in ein paar Tagen eine Geschichtsklausur zum Thema Holocaust und Judenverfolgung in Europa schreiben. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ich wollte nicht über Deutschland und seine Gräueltaten während des Zweiten Weltkriegs nachdenken. Ich wollte überhaupt nicht an Deutschland und deutsche Menschen denken müssen. Deutschland war Esthers Geschichte. Nicht meine. Ich hatte nichts damit zu tun. Ich wollte nichts damit zu tun haben.
Eine deutsche Mutter? Nein! Niemals.
»Ihr lernt bestimmt nicht«, beschwerte sich Jonathan. »Ihr sagt immer, ihr würdet lernen. Und dann esst ihr Pizza oder geht ins Einkaufszentrum oder guckt Fernsehen.«
Hayley lachte.
»Nein, Joni, wir lernen ganz sicher«, versprach ich ihm und fuhr ihm durch die dauerzerzausten, lockigen Haare. Seine Haare. Davids Haare. Nicht meine Haare.
»Ich will auch nach Hause.«
Jetzt fing er an zu weinen und Hayley nahm ihn in die Arme. »Wann kann ich nach Hause, Han?«
»Ich muss jetzt wirklich gehen, Joni. Shar wartet bestimmt schon«, entwand ich mich einer Antwort. Es war immer noch nicht klar, wann Jonathan wieder nach Hause durfte. Vor der Knochenmarkspende? Oder erst danach? Wann immer ein passender Spender gefunden werden würde …
Im Moment waren sich auch die Ärzte nicht schlüssig. Es gab gute Tage und es gab schlechte Tage.
Sharoni wartete wirklich bereits, sie lehnte an ihrem alten Morris und flirtete mit dem Kerl, der den Parkplatz bewachte.
»Du bist unmöglich«, sagte ich, als ich in den Lieferwagen stieg.
»Wieso? Er war süß. Sam. Einundzwanzig. Automechaniker«, erklärte Sharoni und startete den Motor. Zum Abschied winkte sie Sam, dem Süßen, vergnügt zu. So ist sie eben.
»Und jetzt habe ich eine Überraschung für dich«, sagte sie dann. »Weißt du, was wir jetzt machen?«
Ich hob den Kopf. »Geschichte lernen?«
Dann musste ich an Jonathans Worte denken. »Pizza essen? Arrested Development gucken?«, fügte ich darum hinzu. Arrested Development war Shars neue Lieblingsserie. Sie hatte sich sämtliche Folgen heruntergeladen und war mental verrückt nach Michael Bluth, dem Protagonisten der Geschichte.
Sharoni schüttelte entsagend den Kopf und deutete stattdessen auf das altmodische Klappfach unter der Beifahrerkonsole. »Guck mal da rein«, forderte sie mich mit einem kryptischen Lächeln auf und fuhr auf den Highway.
»Warum?«
»Frag nicht so viel. Mach schon, Hannah-Sky.«
Ich zuckte zusammen. »Lass den Blödsinn, Shar!«, murmelte ich ärgerlich, öffnete aber dennoch die knarrende Klappe. Sofort fiel mir eine Million Dinge entgegen. CDs, ein alter iPod, ein wirres Kabelknäuel, ein paar Tampons, Lippenstifte, Shars kleine pinke Digitalkamera, beschriebene und unbeschriebene Postkarten, benutzte und unbenutzte Taschentücher, ein alter, zerknautschter LA-Stadtplan, schlichter Müll – und ein Navigationsgerät.
»Tadam!«, sagte Sharoni stolz und grinste mir zu. »Ganz neu, Hannah Greenberg, wenn dir das lieber ist. – Es gehört meiner Mom, ich habe es ausgeliehen und den Hillcrest Drive schon eingespeichert. Ist gar nicht so schrecklich weit von hier.«
»Du hast – was?«, fragte ich perplex und mein Herz schlug mir bis zum Hals.
»Los, schalt mal ein«, sagte Shar.
»Nein«, antwortete ich.
»Wir schauen uns nur mal die Gegend an, okay?«
»Wozu soll das gut sein?«
Shar warf mir einen Blick zu. »Bist du gar nicht neugierig?«
Ich schwieg.
»Ich wäre neugierig, Han«, sagte Sharoni nachdrücklich.
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