Wenn du mich brauchst
Natürlich, Hamburg war weg, ich war wieder zu Hause, die gröbsten Probleme waren beseitigt, Leek würde seiner Wege gehen, wie er es immer tat.
Besorgt dachte ich an Moon.
28. HANNAH
»Palindrom, du bist schon fast so schlimm wie Esther«, sagte David kopfschüttelnd. »Dauernd diese Filme.«
Ich saß im Schneidersitz auf dem Holzboden und schaute Schindlers Liste . Ich hatte auch Casablanca , Sein oder Nichtsein von Ernst Lubitsch, Der Untergang , Holocaust. Die Geschichte der Familie Weiss und Hitler. Die letzten zehn Tage mit Alec Guiness als Adolf Hitler gesehen. In meinem Kopf drehte sich ein Gefühlskarussell.
Ich wollte, wollte, wollte keine Deutsche sein.
Ich wollte keine deutsche Mutter, keine deutschen Vorfahren haben.
Warum ich? Warum ausgerechnet ich?
Ich hatte sie, was bisher keiner wusste, in der Klinik von Weitem gesehen, als ich zufällig mit meinen Großeltern aus einem der Flurfenster in die Lobby der Klinik hinuntergeschaut hatte. Dort, neben einem künstlichen, laut rauschenden Wasserfall, hatte sie gestanden.
Ihre blonden Haare, ihre schmale Gestalt. Sie hatte ein grünes Strickkleid getragen und dazu verrückte rosa Clogs. An einem Handgelenk ein dünnes Kupferarmband in der Form einer Schlange. An den Ohren lange Ohrringe. Die blonden Haare waren mit einer Spange hochgesteckt gewesen. Ein Boheme-Typ. In einem Film hätte ich sie vielleicht ansprechend gefunden. Aber ich wollte sie nicht in meinem wirklichen Leben haben.
Mit brennenden Augen starrte ich auf den Bildschirm. Die Deutschen hatten das jüdische Volk fast ausgerottet, es wie Vieh behandelt oder schlimmer, Gaskammern und Brennöfen für die Juden konstruiert, sie akribisch abgeschlachtet.
Warum war das alles passiert? Warum raubte mir diese Verwechslungsgeschichte meine Existenz?
David war jüdisch. Jonathan war jüdisch. Genauso Sharoni. Und Chajm und seine Brüder, die mich Blondie nannten. Ich hasste meine hellen Haare jetzt. Alle meine Cousinen und Cousins in Israel, alle waren sie jüdisch – bis auf mich. Ich war jetzt gojisch, nichtjüdisch. Meine Cousins in Ramat Aviv benutzten dieses Wort abfällig für alle Leute, die sie kannten, die nicht den jüdischen Glauben hatten.
In ein paar Tagen würde Jonathan nach Hause kommen. Es ging ihm deutlich besser, allerdings musste er starke Medikamente nehmen, die gewährleisten sollten, dass sein Körper das fremde Knochenmark nicht abstieß.
»Sie ist nett. Sie hat mir dieses Döschen mit Glück drin geschenkt. Sie und Onkel Zvi haben gelacht. Sie ist hübsch«, hatte Jonathan mir erzählt. Es klang wie eine Drohung. Und gestern hatte meine Mutter eine neue Zeichnung von ihm mit aus der Klinik gebracht, ein neues Shalom-Bild, auf dem Sky Lovell neben ihm stand und einen Berg Glück in der Hand hielt.
»Wenn sie so aussieht, wie dein kleiner Bruder sie malt, ist sie keine ernsthafte Konkurrenz für dich, Han«, hatte Sharoni gesagt und das Bild genau betrachtet. »Eine Knubbelnase, dezent schiefe Augen, maisgelbe Schnittlauchhaare, verschieden lange Arme …«
Sie lachte, aber ich lachte nicht.
Meine Großmutter, die mit meinem Großvater zwei Tage vor der Transplantation eingetroffen war, kochte in der Zwischenzeit für den Schabbat, der in ein paar Stunden beginnen würde. Vertraute israelische Düfte erfüllten das Haus. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie meine Bubbe den Kugel, den sie wohl gerade aus dem Backofen geholt hatte, zum Abkühlen auf die Terrasse trug. Dort standen bereits sechs dick mit Mohn bestreute Challahs, die hoch aufgegangen waren, viel höher, als wenn meine Mutter, ich oder David sie zubereiteten. Aus der Küche duftete es außerdem nach Brathuhn und Gemüse.
Für Jonathan hatte meine Großmutter zusätzlich ein paar kleine süße Vanille challahs gebacken, die meine Mutter ihm heute Abend in die Klinik mitbringen würde.
»Mutter, wie schaffst du es nur, dass deine Kugel immer so gut gelingen?«, fragte meine Mutter gerade.
»Gute Kartoffeln, genau die richtige Menge Öl, grad so viel, dass der Teig feucht genug ist und noch ein bisschen in die Form läuft«, sagte Sarah und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab, ehe sie sich neben mich setzte. Meine Mutter war schon wieder hinausgeeilt. Seit sie so viel Zeit im Krankenhaus verbrachte, hatte sie kaum noch Zeit für alles andere. Immerzu war sie in Eile.
»Augenstern, warum schaust du so traurig?«, fragte meine Großmutter und lächelte mir zu. Shar und David waren im Garten, wo
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