Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
aufgehört hat zu schlagen.«
» Nein. Oder vielmehr: du warst bewusstlos. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum du mich nicht sehen konntest. Selbst wenn du bei Bewusstsein gewesen wärst, hättest du mich nicht sehen können. Jedenfalls noch nicht.«
» Hä?« Er legte die Stirn noch tiefer in Falten und lehnte sich von mir weg.
Auf einmal konnte ich den Fluss meiner Worte nicht mehr aufhalten. Es war, als müsste ich unbedingt ein Stück dickes Klebeband von meinem Mund entfernen. Ich wollte es herunterreißen, es mit meiner Erklärung zerfetzen, um wieder atmen zu können.
» Ich habe eine Theorie, so was in der Art jedenfalls. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich kann nicht gesehen werden, es sei denn, jemand ist … na ja … wie ich. Deshalb konnten die Leute am Ufer mich nicht sehen, und deshalb kann Eli mich sehen. Weil er wie ich ist.«
» Wer ist Eli?«
Ich hatte es so eilig damit gehabt, die Wahrheit über die Lippen zu bringen, dass ich die Kontrolle darüber verloren hatte, was aus meinem Mund hervorsprudelte. » Sorry«, stöhnte ich. Ich ließ den Kopf in meine Hände sinken und kniff die Augen fest zu. » Ich drücke mich nicht verständlich aus, nicht wahr?«
Joshuas Reaktion überraschte mich. Er klang nicht frustriert oder auch nur verwirrt. Stattdessen war seine Stimme leise und eindringlich.
» Amelia, ich gebe mir große Mühe, das Ganze zu begreifen. Ich weiß, dass sich etwas … Eigenartiges zugetragen hat. Dass es sich zuträgt. Ich werde dir deine Erklärung glauben. Mach nur langsam, okay?«
Ich schlug die Augen auf und erwiderte seinen Blick. Seine Augen waren wunderschön und ernst. Sie erinnerten mich an den Nachthimmel. Ich versuchte, mich nicht von ihnen ablenken zu lassen, damit ich mich auf dieses furchtbare Gespräch konzentrieren konnte.
» Joshua, ich weiß überhaupt nicht, wie ich das hier sagen soll.«
» Ist okay. Es wird okay sein.«
Ich wandte mich von ihm ab und starrte auf den Flecken roter Erde vor uns, ohne ihn jedoch wirklich wahrzunehmen. Als ich wieder sprach, tat ich es langsam. Mit großer Anstrengung.
» Ich glaube, du hast mich gesehen und du kannst mich immer noch sehen, weil zwischen uns eine Art … ich weiß nicht … magische oder spirituelle Verbindung besteht. Du bist wie ich. Oder du warst es zumindest, wenigstens einen Augenblick lang.«
Joshua verengte die Augen zu Schlitzen. » Und mit › wie du‹ meinst du …«
» Dass du gestorben bist.«
Das Wort » gestorben« hing schwer in der Luft zwischen uns, wie eine Axt, die darauf wartete niederzusausen.
Mit zusammengepressten Lippen versuchte Joshua, meine Worte zu begreifen, versuchte, den Windungen meiner Argumentation zu folgen. Vielleicht hatte er noch nicht alle Teile miteinander in Verbindung gebracht, aber das würde er. Mit jeder Sekunde, die verstrich, war es ihm anzusehen, Stück für Stück. Er würde jeden Moment den Zusammenhang erkennen, würde mich entweder für verrückt erklären oder – schlimmer – mir glauben.
» Okay«, setzte er zögernd an. » Du und ich, wir sind beide gestorben? Ich in dem Fluss und du irgendwann früher?«
» Ja. Tatsächlich im gleichen Fluss.«
» Wow!« Er blinzelte überrascht, fasste sich dann aber wieder. » Du behauptest also, diese › Verbindung‹ ist der Grund, weshalb ich der Einzige war, der dich sehen konnte? Eine Art Magie oder so was?« Die letzten Worte sagte er unsicher, als probiere er eine fremde, neue Sprache aus.
» Ich glaube schon.« Ich senkte wieder den Blick in meinen Schoß.
» Und es gibt die Verbindung, weil du gestorben bist?«, fragte er.
Ich nickte nur.
» Und du bist wieder lebendig geworden, wie ich?«
Ein oder zwei Herzschläge vergingen, und dann …
» Nein, Joshua. Das nicht.«
Eine Weile herrschte nur Schweigen. Dann hörte ich, wie er scharf die Luft einsog.
Hier war er – der Augenblick der Wahrheit. Mit nichts als einem Flüstern bereitete ich seinen Illusionen ein Ende.
» Sieh mal, Joshua – ich bin nie wieder lebendig geworden.«
In diesem denkbar ungünstigsten Augenblick überkam mich eine dieser neuen, unberechenbaren Empfindungen. Auf einmal spürte ich die warme Brise auf der Haut meiner Beine und Arme. Die Luft fühlte sich aufgeladen an, elektrisiert, als würde gleich der graue Himmel aufreißen und Blitz und Donner und Chaos losbrechen lassen. Meine Arme überzog eine Gänsehaut. Eine echte Gänsehaut, wie die, die ich dank Eli bekommen hatte.
Ich konnte
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