Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
nicht in Joshuas Gesicht hochblicken, aber ich konnte hören, wie er stammelte und ungläubige leise Geräusche von sich gab. Dann wurde er ganz still. Dieses Schweigen dauerte möglicherweise eine ganze Minute an. Anschließend sprach er mit einer unnatürlichen Gelassenheit.
» Amelia, willst du damit behaupten, du bist …«
» Tot«, sagte ich sofort. Es fühlte sich falsch an, das Unvermeidliche weiter hinauszuzögern.
» Tot.« Er wiederholte das Wort völlig tonlos.
Ein weiterer Herzschlag verging, und dann, völlig unerwarteterweise, sprang Joshua von der Bank. Er wirbelte herum und sah mich an. Ich starrte zu ihm empor, ganz gewiss mit wildem Blick und verzweifelt. Sein Gesicht war jedoch ausdruckslos, wie eine Art Maske – und verbarg Entsetzen, Wut, Unglaube, Hass? Ich hatte keine Ahnung.
Ich hielt es nicht aus. Ich hielt seine erstarrte Miene nicht aus, die Miene, die daher rührte, dass ich ihm die Wahrheit gesagt hatte. Entweder hielt er mich für verrückt, oder aber er wusste, dass ich tot war. Zu welchem Schluss er auch gekommen sein mochte, ich würde ihn gewiss verlieren, so wenig er mir auch je gehört hatte.
In dem Augenblick fühlte ich mich unvorstellbar und wirklich absolut allein. Wahrscheinlich allein bis in alle Ewigkeit und mir wurde nun schmerzlich bewusst, was mir entginge.
» Es tut mir leid«, stöhnte ich, entschuldigte mich bei ihm, bei mir, bei wer weiß wem. Dann schlug ich mir die Hand vor den Mund.
Ich war so verloren in meinem Selbstmitleid, dass ich es beinahe nicht bemerkte: etwas auf meiner Wange. Etwas Warmes und Feuchtes, das sich einen Weg zu meinem Mundwinkel bahnte. Ohne den Blick von seinem ausdruckslosen Gesicht zu nehmen, berührte ich meinen Augenwinkel mit einem Finger. Ich führte die Fingerspitze an meine Zunge. Sie schmeckte salzig.
Eine Träne! Meine toten Augen hatten eine Träne vergossen! Etwas an dieser einzelnen Träne musste Joshua aufgerüttelt haben, denn auf einmal schmolz seine erstarrte Miene dahin. Seine Augen und sein Mund nahmen einen sanften Zug an.
» Amelia.« Seine Stimme war rau und brach. Mein Name hatte noch nie schöner geklungen.
Joshua streckte die Hand nach mir aus, als wolle er sie an meine Wange schmiegen. Ohne einen Gedanken an etwas anderes als den Schmerz zu verschwenden, der in meinem Innern tobte, lehnte ich mich ihm entgegen.
Nichts hätte uns auf den Augenblick vorbereiten können, als seine Haut ein weiteres Mal die meine berührte.
7
E igentlich hätte es mich nicht überraschen sollen. Meine Welt hatte sich beim ersten Mal verändert, als er mir die Hand auf die Wange gelegt hatte – es bestand kein Grund, warum sie sich nicht verändern sollte, als er es wieder tat.
Doch als seine Hand mein Gesicht zum zweiten Mal berührte, keuchten wir beide verblüfft auf und zuckten zurück. Unwillkürlich tasteten meine Finger nach der brennenden Stelle an meiner Wange, und er hielt seinerseits seine rechte Hand mit der Linken umschlossen.
Diese Gesten mochten auf einen außenstehenden Beobachter schützend, ja sogar abwehrend wirken. Für mich waren sie jedoch alles andere als das.
In dem Augenblick, als seine Haut an meiner entlangstrich, durchschoss ein Stromstoß meinen gesamten Körper, von der Kopfhaut bis in die Zehenspitzen. Angesichts dieses Stroms wirkten der Schmerz in meiner Brust und das Kribbeln, das meine Wirbelsäule entlangraste, wann immer er mich ansah, wie langsam verglimmende Kohle. Mein Herz, mein Gehirn, meine Haut – das alles wurde vorübergehend von einer Flamme ergriffen, einer Flamme, die sich aus dem bloßen Funken an meiner Wange entwickelt hatte.
Ich hatte noch niemals etwas derart Beglückendes gespürt. Weder im Tode … noch im Leben. Das wusste ich, tief in meinem Innern.
Joshua starrte mich an und rieb sich die Hand. Er atmete so unregelmäßig, als sei er gerade eben eine weite Strecke gelaufen. Immer noch keuchend, lächelte er schließlich. Strahlend.
» Was«, würgte er hervor, » war das denn?«
» Ich habe keine Ahnung.« Und ich brach in Gelächter aus. » Willst du noch mal?«
» Aber ja!«, knurrte er und streckte rasch den Arm aus, um meine Hand in meinem Schoß zu packen.
Wie schon zuvor brachten wir keinen perfekten Kontakt zustande. Nicht wirklich. Ich spürte weder die Beschaffenheit seiner Haut noch die Kraft, mit der seine Finger die meinen umschlossen. Ich spürte den eigenartigen, vertrauten Druck, der sich immer einstellte, wenn ich etwas aus der Welt der
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