Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
Tätigkeitsbeschreibung anfangen.«
Ich hob die Augenbrauen, und er stieß ein Seufzen aus.
» Ich bin, in gewissem Sinne, der … Hüter dieses Lebens nach dem Tod. Ich bin beauftragt, mich darum zu kümmern. Es gedeihen zu lassen.«
» Gedeihen zu lassen? Du meinst, die ganzen Pflanzen?«
Aus irgendeinem Grund glitzerten Elis Augen schalkhaft. » Die und … andere Dinge. Hör mal!«, befahl er und legte die hohle Hand an sein Ohr.
Ich gehorchte ihm unwillkürlich, kniff die Lippen fest zusammen und konzentrierte mich auf die Ruhe, die mich umgab. Zuerst hörte ich nichts außer vielleicht dem seltsamen Widerhall der Stille, wie wenn man sich eine Muschel ans Ohr hält.
Dann hörte ich sie ganz, ganz leise in der Stille. Zuerst schwach, aber dann immer deutlicher.
Geflüster. Einen ganzen Stimmenchor.
» Wer …«, setzte ich an, doch Eli hielt sich einen Finger an die Lippen und bedeutete mir, still zu sein.
Das Geflüster dauerte an, gedämpft und beharrlich. Ich war mir nicht sicher, aber ein paar Sekunden später hatte ich den Eindruck, als klängen die Stimmen … verzweifelt. Außer sich.
Etwas an ihnen flößte mir Angst ein.
» Was sind das für Stimmen, Eli?«, wollte ich bebend wissen. » Sag es mir sofort.«
» Ich glaube, du weißt es bereits.«
» Menschen?«, flüsterte ich.
» Na ja«, sagte er mit einem verschlagenen Grinsen, » das waren sie früher einmal.«
Ich schluckte. Ein merkwürdiges Schwindelgefühl hatte mich befallen. » Worin genau besteht deine Aufgabe hier wirklich, Eli?«
Er seufzte, als sei er erleichtert, dass ich endlich eine wichtige Frage gestellt hatte. » Ich bin nicht nur ein Hüter, sondern auch eine Art Anwerber. Man hat mich dazu auserwählt, dass ich bestimmte frisch verstorbene Seelen an diesen Ort bringe. Manche der Stimmen, die du gehört hast, sind meine Schützlinge – Seelen, die ich herüberbringen sollte.«
» Andere Geister?«
Eli nickte. » Ich glaube, du hast gestern ein paar von ihnen gesehen.«
Ich dachte an die huschenden Gestalten, die ich aus dem Augenwinkel gesehen hatte. Verstört blickte ich rechts und links an Eli vorbei zum leeren Flussufer. » Wo sind sie jetzt?«
» Ich habe ihnen gesagt, dass sie sich eine Zeit lang fernhalten sollen, damit du und ich uns unterhalten können.« Er bewegte den Kopf ruckartig in Richtung der eigenartigen Bäume hinter ihm. » Die meiste Zeit bleiben sie dort, bis ich sie brauche.«
» Bist du … ihr Chef oder so was?«
Eli zuckte mit den Schultern, aber stolz. Beinahe selbstzufrieden. » Ich werbe sie für meine Gebieter an. Im Gegenzug gewähren mir meine Gebieter Macht über diesen Ort und die angeworbenen Seelen dort. Die Seelen befolgen meine Befehle und helfen mir bei allem, was ich verlange. Bei großen Missionen sind sie auf jeden Fall praktisch.«
Ich versuchte bei dem Gedanken, was eine » große Mission« für Eli bedeuten mochte, nicht zu erschaudern. » Und diese › Gebieter‹, diejenigen, die dir diese Aufgabe übertragen haben … befinden sie sich ebenfalls in dem Wald dort?«
Er lachte, als habe ich etwas Lächerliches gesagt. » Nein, selbstverständlich nicht, Amelia. Das hier ist mein Reich. Aber dort drüben …« Seine Stimme verlor sich, und er sah mir über die Schulter. Ich folgte seinem Blick, hin zu der Stelle, wo der Fluss sich träge unter der High Bridge bewegte. Zu der Stelle, an der gestern das schwarze Loch erschienen war.
In meinem Kopf setzten sich ein paar Einzelheiten zusammen, und ich stöhnte auf. » Du hältst Leute in dieser Welt gefangen? Auf Befehl von … wer auch immer in diesem … diesem Höllenschlund lebt?«
» Nur weil diese Seelen hierher gehören. Und die Dunkelheit dort drüben ist nicht die Hölle. Es ist lediglich einer der Orte, an den sich die höheren Mächte zurückziehen, wenn sie mir nicht gerade meine Anweisungen erteilen.«
Eli klang aufrichtig. Doch ich schüttelte heftig den Kopf über seine Worte. Keine Seele hatte es verdient, in diesem dunklen Wald zu bleiben, für immer in der Falle, nicht in der Lage, sich zwischen den Welten zu bewegen, wie Eli und ich es offensichtlich konnten. Ganz egal, wer oder was eben das befohlen hatte.
Als ich darüber nachdachte, wie es sein musste, in dem dunklen Wald oder, Gott behüte, irgendwo in jenem lichtlosen Abgrund gefangen zu sein, kam mir etwas in den Sinn. Etwas Furchterregendes.
Ich hob wieder den Blick und sah ihm forschend in die blassblauen Augen. » Was ist mit mir, Eli?
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