Wenn du mich siehst - Hudson, T: Wenn du mich siehst - Hereafter
daneben war das Foto meines Vaters mit schwarzen Bändern geschmückt.
Auf dem Band links vom Bild meines Vaters stand der Name Todd Allen Ashley. Er glänzte mir in der gleichen silbernen Prägeschrift entgegen, die mein eigenes Porträt umgab. Das Band auf der rechten Seite konnte ich nicht ganz entziffern, und ich wollte es auch gar nicht. Wie auch immer die Daten lauten mochten, die auf das Band gedruckt waren, ich wusste, wofür sie standen: den Geburtstag … und den Todestag.
Zuerst ergaben die Einzelheiten, die sich meinem Blick boten, keinen Sinn. Doch je länger ich das Foto anstarrte, desto mehr Details gewannen an schrecklicher Deutlichkeit. In dem Moment, als sie zusammenpassten, verlor ich jeglichen Boden unter den Füßen.
Doch ich hatte keine Angst. Ich wollte es. Ich wollte Dunkelheit, Nichts. Ich wollte jetzt einen Albtraum. Ich wollte, dass der Fluss mich nach unten zog, dass er mich ertrinken ließ oder in Elis furchtbarer Unterwelt gefangen hielt.
Ich wollte alles, bloß nicht das hier.
Egal, was ich wollte, ich stürzte nicht in Dunkelheit. Ich stand reglos in dem überladenen Wohnzimmer, in dem meine Mutter wahrscheinlich allein saß, Abend für Abend. Keine Tochter, mit der sie streiten, kein Ehemann, mit dem sie sich unterhalten konnte.
Denn ich war tot.
Und mein Vater war tot.
Ich legte mir die Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zu ersticken. Joshua streckte die Hand nach mir aus, doch ich wich kopfschüttelnd zurück.
Als habe Joshua eben meine Gedanken gelesen, flüsterte er: » Es ist nicht deine Schuld, Amelia.«
» Ist es doch. Ich weiß es.«
» Wie denn?«, drängte er.
» Sieh dir das Haus doch einmal an!« Ich wies mit einer ausholenden Bewegung auf den verkommenen Inhalt des Zimmers und das zur Gruft umfunktionierte Schlafzimmer gleich gegenüber. » Es ist alles entzweigegangen, als ich gestorben bin. Es ist alles entzweigegangen.«
» Ich weiß, und es ist schrecklich.« Joshuas Stimme war sanfter, aber immer noch nachdrücklich. » Furchtbar. Und es tut mir leid, Amelia. Aber – manchmal passiert das eben. Und das Wichtige ist, dass du es nicht heraufbeschworen hast.«
Es schien unwichtig zu sein, was Joshua sagte – ich zitterte immer weiter. » Ich war nicht da, Joshua. Ich war nicht da, als … als …«
Der Gedanke schnürte mir die Luft ab. Joshua kam auf mich zu, streckte die Hand nach mir aus, doch ich zwang die Wörter aus meinem Mund, bevor er mich berühren konnte. Ja, beinahe spie ich die Wörter aus.
» Ich war nicht da, als mein Vater starb. Jetzt ist meine Mom ganz allein, und mein Dad könnte sonst wo sein. Er könnte herumirren, wie ich es getan habe. Oder er könnte … an einem schlimmeren Ort sein.« Bei dem Gedanken an Elis dunkle Welt und die armen gefangenen Seelen dort erschauerte ich. » Und ich kann verdammt noch mal nichts dagegen tun.«
Meine Augen brannten. Es überraschte mich nicht, als sich eine Träne ihren Weg meine Wange hinunter bahnte. Doch ich war fassungslos, als eine ganze Tränenflut folgte.
Mit offenem Mund blickte ich zu Joshua auf, mein Gesicht wahrscheinlich ganz jämmerlich vor Entsetzen. Hektisch wischte ich mir über die Wangen und starrte auf meine Hände hinab, die schon bald ganz nass waren.
» Ich … ich habe noch nie geweint«, stotterte ich und blickte wieder zu ihm auf. » Nicht so.«
Er packte mich an den Armen und zerrte mich regelrecht an sich.
» Was immer du tust, Amelia, ich finde es in Ordnung.« Seine Stimme klang heiser, ganz tief vor Emotionen.
Es schockierte mich wieder einmal, was der Klang seiner Stimme mit meinem Körper anstellte, ganz egal, wie trostlos meine Gedanken sein mochten. Auf einmal waren meine Arme eng um Joshuas Hals geschlungen. Ebenso eng schlang er seine Arme um meine Taille und zog mich schneller an sich, als ich mich an ihn drängen konnte. Jetzt gab es keinen Raum mehr zwischen uns. Wir waren aneinandergeschmiegt, und als er sich noch näher an mich drückte, hatte ich das Gefühl, ich würde vielleicht tatsächlich zu atmen aufhören.
Ich spürte alles: den Druck seiner Arme um mich, seine Finger an meiner Taille, seinen warmen Atem auf meiner Haut. Alles, was ich über mich und meine Beziehung zur Welt der Lebenden wusste, besagte, dass dies unmöglich war. Doch das war im Moment unwichtig. Wichtig war nur, dass ich mich lebendig fühlte. Ich spürte alles.
Joshua starrte auf mich herab, und ich spürte die Hitze seiner mitternachtsblauen Augen auf jedem
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