Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
zuerst mit Jenna, dann mit ihrer Mutter und zuletzt mit Shane.
»Dann schauen wir sie uns doch mal an!«
Ihr Herz wurde schwer. Hatte er ihre Nachrichten überhaupt alle abgehört? »Sie ist verletzt, Dad. Wir haben sie in eine Auffangstation in Kingston gebracht.«
»Ah«, erwiderte er. Aber die Sache schien ihn ohnehin nicht besonders zu interessieren, denn er kramte in seiner Jackentasche und holte eine Zigarette heraus, steckte sie zwischen die Lippen. Sie sah, dass seine Hand so zitterte, dass er das Feuerzeug nicht ruhig halten konnte, und so gab er den Versuch auf.
Sie kamen an der Rangerstation vorbei; Mickey drehte sich um, sah Mr. O’Caseys grünen Truck vor der Tür stehen. Sie hätte gerne gewusst, was zwischen ihrer Mutter und ihm geschehen war, er hatte schon seit Tagen nicht mehr angerufen. Und Neve war ständig in Gedanken versunken. Es kam ihr seltsam vor, während der Autofahrt mit ihrem Vater Wünsche zu haben, die ihre Mutter und Mr. O’Casey betrafen. Es kam ihr wie Verrat vor.
Als sie das Dickicht erreichten, bedeutete Mickey ihrem Vater, anzuhalten.
»Ich kann dir zeigen, wo die Schneeeule war. Wenn du die Stelle sehen möchtest.«
»Klar.«
Sie stiegen aus. Er lehnte sich an die Tür, und es gelang ihm, die Zigarette anzuzünden. Mickey hasste es, wenn er rauchte, hatte Angst, dass er an Lungenkrebs sterben könnte. Aber es war fast noch schlimmer, dass er sein Feuerzeug beinahe nicht benutzen konnte, weil seine Hand so zitterte. Alles hatte mit einem Mal zwei Seiten, stürzte sie in einen abgrundtiefen Konflikt, selbst etwas so Schreckliches, wie ihren Vater rauchen zu sehen.
Als sie durch das Gehölz gingen, hörte Mickey Vogelgezwitscher. Die Zugvögel waren zurückgekehrt! Sie dachte an den Tag zurück, vor einem Monat, als sie mit Jenna hier gewesen war. Das Dickicht wirkte wie abgestorben – als würden selbst das Gestrüpp und die Äste der Sträucher nicht mehr aus ihrer Winterruhe erwachen. Nun war der unverkennbare Ruf der Weißkehlammer zu hören: Peabody, peabody … Und überall lugten die ersten grünen Triebe aus dem sumpfigen Boden, und winzige weiße Knospen hingen an den Zweigen der Felsenbirne; der Frühling war eingekehrt, oder zumindest im Anmarsch.
Auf der anderen Seite des Gehölzes angekommen, standen sie hoch oben auf den Dünen, die sich wie eine endlose Mondlandschaft zu beiden Seiten des Strandes erstreckten, und spürten den Wind auf ihren Gesichtern, der vom Meer herüberwehte. Mickeys Blick fiel auf den Pier und ihr Herz klopfte, weil Shane bald kommen würde und das die Stelle war, an der er sonst stand, wenn sie ihm beim Surfen zusah.
»Dort drüben war die Eule.« Sie deutete auf den riesigen Treibholzhaufen.
»Wo, sagtest du, ist sie jetzt?«
»In Joseph O’Caseys Auffangstation für Raubvögel. In der Nähe der University of Rhode Island.«
»Seltsam«, sagte er als hätte er gar nicht zugehört. Er starrte auf das große silberfarbene Stück Treibholz, das unmittelbar neben dem Steg lag. »Scheint genau die Stelle zu sein, an der Cole Landry das Band durchtrennt hat.«
»Welches Band?«
»Oh, das ist nur so ein Ausdruck für die medienwirksame Inszenierung eines Projekts, das eröffnet oder eingeweiht wird. Viel Presserummel und große Reden.«
»Er schwingt gerne große Reden«, meinte Mickey.
Ihr Vater warf ihr einen seltsamen Blick zu.
»Findest du?«
»Ähm, ja.« Sie errötete. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Vermutlich bewunderte ihr Vater Cole Landry – bevor er einer der größten Wirtschaftsmagnaten der Welt wurde, hatte Landry ebenfalls in der Immobilienbranche angefangen. Sie erschrak und hätte ihre Worte am liebsten zurückgenommen, um die Gefühle ihres Vaters nicht zu verletzen. »Warum, kennst du ihn?«
»Ja, mehr oder weniger.« Ihr Vater schien zu wachsen, stand mit stolzgeschwellter Brust da. Sie war froh, dass er seine Selbstachtung wiedergewonnen hatte, und sei es nur aufgrund einer Begegnung mit Cole Landry. »Ich war doch auf dieser Tagung im Landry Tower in New York; erinnerst du dich?«
Mickey schüttelte den Kopf. »Nein.«
Die Miene ihres Vaters trübte sich. »Ich nehme an, deine Mutter hat dir nichts davon erzählt«, erwiderte er. »Muss nach unserer Trennung gewesen sein. Das hatte ich wohl vergessen.«
Oder ihre Mutter hatte ihm die Geschäftsreise nach New York nicht abgenommen. Sie wusste, dass ihr Vater häufig gelogen hatte, wenn es um solche Dinge ging; er hatte auch behauptet, mit dem
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