Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)

Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)

Titel: Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
Vom Netzwerk:
die aus dem Nest gefallen waren. Und Richard. Als sie sich kennengelernt hatten, war er gerade vom College abgegangen. Sein Vater war gestorben, und er konnte sich das Studium nicht mehr leisten. Er hatte sich eine Arbeit besorgt, hatte ständig Partys besucht und getrunken, um den Verlust nicht mehr zu spüren. Sie hatte geglaubt, ihn retten zu können.
    »Was schlagen Sie vor?«, fragte sie.
    »Lassen Sie Shane auf der Couch schlafen.«
    »Ist er ein anständiger Junge?«
    »Ich beginne, das zu glauben.«
    Neve nickte. Ihr Entschluss stand fest; sie fühlte sich seit jeher besser, sobald eine Entscheidung gefallen war. Sie hatte noch Zweifel, was Shane betraf, aber es konnte nicht schaden, ihn für eine Nacht aufzunehmen. In der Zwischenzeit konnte sie nur hoffen, dass die Polizei das Richtige tat und Josh Landry in Gewahrsam nahm.
    »Ich bin froh, dass die beiden es geschafft haben, die Eule rechtzeitig zu Ihnen zu bringen«, sagte sie.
    »Rechtzeitig?«
    »Um ihr Leben zu retten.«
    Er schüttelte den Kopf. Sein Blick war ernst – beinahe kummervoll. Die Linien um Augen und Mund waren ihr nie
tiefer erschienen, und sie sah, wie sich seine Miene verdüsterte.
    »Von retten kann keine Rede sein. Die Verletzungen sind zu schwer. Ich schätze, dass sie den morgigen Tag nicht mehr erleben wird.«

9
    D och am nächsten Tag lebte die Eule noch. Tim hatte während der Nacht kaum geschlafen und ständig auf das Rascheln unter der Decke gelauscht. Er rechnete damit, dass das Geräusch irgendwann verstummte, und ihm graute vor jeder endlos währenden Sekunde, in der sie sich weder bewegte noch schrie. Stille hätte Tod bedeutet, deshalb war er wach geblieben, hatte den Lärm begrüßt, auf ihn gehofft.
    Er wartete bis zum Morgengrauen. Er widerstand der Versuchung, nachzusehen – es war nicht gut, eine emotionale Beziehung zu dem Vogel im Käfig aufzubauen. Er hatte schon früh auf dem harten Weg gelernt, was Verlust bedeutete, und dass man sein Herz nicht an Dinge hängen sollte, die man liebte. Er erinnerte sich an die Scheune – draußen hinter dem Haus, wo sein Vater die ersten Arbeiten seines Bruders aufbewahrt und sich um verletzte Raubvögel gekümmert hatte – und an die Zwergohreulen, die noch nicht flügge gewesen waren. Er dachte selten an sie, doch jetzt überfluteten ihn die Erinnerungen.
    Bei Tagesanbruch stand er auf, ging zum Käfig hinüber und schob die Decke zurück. Die Eule saß aufrecht da, wenn auch etwas zur Seite geneigt. Tim kauerte sich neben den Käfig, sah sie an. Sie erwiderte seinen Blick; ihre Augen waren gelb und funkelten wie zwei Sonnen. Die Unmittelbarkeit des Kontakts durchzuckte ihn wie ein Blitz.
    »Was ist, hast du Hunger?«
    Die Eule zuckte mit keiner Wimper.
    Er versuchte sich zu erinnern, was zu tun war. Er verließ das Wohnzimmer, ging zum Waschbecken in der Küche und füllte eine Schüssel mit Wasser. Er durchforstete den Kühlschrank und nahm die Winterflunder heraus, die er noch nicht ausgenommen hatte. Als er zum Käfig zurückkehrte, hatte die Eule ihre Position verändert, kaum merklich, als hätte sie beobachten wollen, was er in der Küche trieb.
    Er öffnete die Käfigtür. Langsam schob er seine Hand hinein, rechnete jeden Moment mit einem Angriff. Doch die Eule rührte sich nicht, ließ die Hand mit der Wasserschüssel näher kommen. Er hielt den Arm stocksteif, wartete, dass sie trank. Nach einer Weile begann sein Arm zu schmerzen, aber er
biss die Zähne zusammen. Er hatte oft beobachtet, wie sein Vater einen verletzten Falken zum Trinken motivieren konnte: Er hatte ihm die Schale mit dem Wasser hingehalten, so unbeweglich und lange, dass Tim sich schon zu fragen begonnen hatte, ob sich sein Vater in einen Baum verwandelt hatte. Vielleicht hatte er den Falken glauben machen wollen, dass er einer war.
    Es war ein Rotschwanzbussard gewesen, der sich in einem Elektrodraht verfangen hatte. Sein Flügel war gebrochen und sein Vater war fest entschlossen gewesen, alles zu tun, was in seiner Macht stand, damit er überlebte. Schon damals hatte er sich einen Namen als Experte für verletzte Raubvögel gemacht. Und Tim hatte gelernt, wenn er seinem Vater nahe sein wollte, musste er die Nähe von Falken, Adlern und Eulen in Kauf nehmen.
    Heute beherrschte er die Technik seines Vaters im Schlaf. Dennoch wollte die Eule nicht trinken. Er wartete noch ein paar Minuten, dann stellte er die Schüssel auf dem Boden des Käfigs ab. Er bot ihr die frische Flunder an, doch

Weitere Kostenlose Bücher