Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
auch sie wurde ignoriert.
Tim nutzte die Gelegenheit, um sich einen ersten Überblick über die Verletzungen zu verschaffen: Gestern Abend hatte er geglaubt, der linke Flügel sei zertrümmert und man könne die gezackte Bruchstelle des Außenknochens durch die Haut dringen sehen, schmal, zerbrechlich und hohl wie ein Federkiel. Bei genauerem Hinsehen konnte er aber nur gebrochene Federn entdecken. Er wusste nicht, ob die Knochen heil geblieben waren, doch hatte sie mit Sicherheit Fleischwunden davongetragen. Das glänzende, schneeweiße Gefieder – an dem man die ausgewachsenen Männchen erkannte – war blutverschmiert.
Der furchterregende Schnabel, der zahllose Maulwürfe, Wühlmäuse, Feldmäuse und was auch immer getötet hatte – Nahrung, die dafür sorgte, dass dieser seltene Raubvogel während der langen Reise zum Nordpol und in den Süden bei Kräften blieb –, war gebogen, stärker gekrümmt als normal. Zwischen dem Ansatz und dem grimmigen weißen Gesicht der Eule klaffte ein Spalt, eine Verletzung, die noch schlimmer anzusehen war als der gebrochene Flügel.
Als es klopfte und er zur Tür ging, um zu öffnen, hatte er sich abgewöhnt, Mutmaßungen anzustellen, wer dieses Mal seiner Hilfe bedurfte. Ein verletzter Junge, ein Mädchen, das dem Ertrinken nahe gewesen war, eine Eule mit gebrochenem Flügel – was kam als Nächstes? Er tappte auf bloßen Füßen durch die Küche, in T-Shirt und Trainingshose, in denen er geschlafen hatte, und riss die Tür auf.
Vier Männer standen auf der Schwelle – drei erkennbar in Arbeitskleidung, bestehend aus Jeans und strapazierfähiger Funktionsjacke, der vierte in einem eleganten schwarzen Kaschmirmantel.
»Was zum Teufel …« Dem Mantel-Typ fehlten offenbar die Worte.
»Entschuldigung?«
»Sind Sie der Ranger?«
»Bin ich, und ich wünsche Ihnen auch einen guten Morgen.«
»Ich erwarte gegen zwölf eine Filmcrew. In knapp vier Stunden. Haben Sie die Mitteilung bezüglich der Dreharbeiten nicht gelesen?«
»Das was?«
»Die Mitteilung bezüglich der Dreharbeiten.«
»Meinen Sie mit ›Mitteilung‹ einen Brief?«
»Ich habe keinen blassen Schimmer, wie man Sie informiert hat, aber man hat es Ihnen mitgeteilt. Ich rede vom Fernsehen. Die Sendung wird live übertragen. Und erzählen Sie nicht, dass Sie nicht wissen, wovon ich rede, denn man hat mir versichert, dass Sie benachrichtigt wurden! Sie sollten dafür sorgen, dass der Strand für die Kamera in Ordnung und optimal hergerichtet ist.«
Die Eule gab einen quietschenden Laut von sich, als lache sie Landry aus, und Tim grinste.
»Was ist daran so komisch?«
Tim betrachtete den Mantel-Typen und wusste, dass bei solchen Idioten Hopfen und Malz verloren war. »Den Strand in Ordnung bringen und optimal für die Kamera herrichten? Sie meinen, ohne Seetang und Treibholz? Hätten Sie sonst noch einen Wunsch, beispielsweise den Pier frisch lackieren? Oder die Brandung glätten …«
Er machte eine entsprechende Bewegung mit der rechten Hand. Wenn er die Schulter ein wenig zurücknahm, könnte er ausholen und diesem Ignoranten mit einem einzigen Hieb die Nase zertrümmern.
»Sie halten sich wohl für verdammt schlau, Sie Klugscheißer.«
»Cole Landry, richtig?« Tim machte keine Anstalten, ihm die Hand zu schütteln.
»Richtig«, erwiderte Landry mit der Selbstzufriedenheit eines Mannes, der wusste, dass sein Gesicht weltweit bekannt war. Tim starrte ihn an, leicht irritiert, weil sich in dem dunkelbraunen dichten Schopf des Mannes kein einziges Haar bewegte. Und das bei einer Windstärke von gut fünfzehn Knoten!
»Haben Sie ein Problem mit dem Strand?«
»Da unten liegt ein großer Stapel verkohltes Holz – Überreste eines Lagerfeuers, wie mir scheint. Überall sieht man Reifenspuren und einen Haufen leerer Plastikbecher, die bei dem Wind herumfliegen. Meine Mitarbeiter hatten den Auftrag, sich zu vergewissern, dass Ihr Strand heute tipptopp in Ordnung ist.«
»Gestern Abend fand eine Party am Strand statt.«
»Wie bitte?«
»Fragen Sie Ihren Sohn.«
»Meinen Sohn? Was soll das?«
»War die Polizei noch nicht bei Ihnen?«
Bei dem Zorn, der in Landrys Augen aufloderte, erübrigte sich eine Antwort. Genau in diesem Augenblick schrie die Eule.
»Ihr Sohn hat gestern Abend zwei Mitschüler verletzt«, erklärte Tim wutentbrannt. »An ›meinem‹ Strand, wie Sie ihn zu nennen belieben. Ein sauberes Früchtchen, geht über Leichen; ich möchte wissen, woher er das hat.«
Landry
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