Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)

Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)

Titel: Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
Vom Netzwerk:
Auch wenn er in Kürze sechsundachtzig wurde, befand er sich im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Doch der Anblick der Schneeeule erinnerte ihn an die erste Reise, die sie nach der Rückkehr aus dem Krieg gemeinsam unternommen hatten.
    Ach ja, damals. Die erste Gelegenheit, sich zu sehen und Zeit miteinander zu verbringen. Die erste Gelegenheit, den Schaden, den sie im Krieg davongetragen hatten, auszuloten. Joe sehnte sich nach diesem Kontakt – nach dem unkomplizierten Beisammensein unter Brüdern, dem Trost familiärer Bindungen, dem vertrauten Rhythmus von Scherzen, Geschichten und angefangenen Sätzen, die der andere beendete.
    Sie waren die erste Strecke mit dem Zug gefahren, danach per Anhalter und zum Schluss hatten sie einen kanadischen Mountie überreden können, sie mitzunehmen. Damien hatte ein Schützengrabentrauma erlitten, und Joe war der Meinung gewesen, die Reise in die Tundra sei die beste Medizin; dort würden sie etwas Einmaliges zu Gesicht bekommen, einen seltenen Vogel. Die Schneeeule.
    Sie schafften es in die Tundra, bis rauf in die Hudson Bay. Joe hatte gespürt, wie die eisige Luft und das Nordlicht den Geruch von Schießpulver, Diesel und Salz auf seiner Haut und in seinem Gemüt überdeckten. Er hatte sich von der langen Dunkelheit einlullen lassen, in einen tiefen, geruhsamen Schlaf, fern der Alpträume, die ihn plagten. Er hatte Damien immer wieder anschauen müssen, unsäglich froh, ihn wiederzusehen.
    Er sah noch genauso aus wie früher. Aber er war nicht mehr derselbe. In seinen Augen glomm ein düsteres Feuer, was nicht unbedingt an der Veränderung liegen musste, die er an ihm bemerkte – Damien war immer ein empfindsamer, nachdenklicher Mensch gewesen. Doch nun schien er gealtert zu sein. Nicht nur an Jahren, sondern auch innerlich – er wirkte härter, wie versteinert.
    Joe hätte seinen Bruder gebraucht – seine eigenen Erfahrungen während des Krieges hatten ihn aus der Bahn geworfen. Er hatte unvorstellbare Dinge zu Gesicht bekommen und der Kriegslärm verfolgte ihn noch im Schlaf; das Grauen war zu groß, um es in Worte zu fassen; zumindest konnte er nicht mit Verwandten, Bekannten oder anderen Menschen darüber reden, die den Krieg nicht am eigenen Leib miterlebt hatten. Er sehnte sich danach, mit Damien zu sprechen, sich auszutauschen, sich gegenseitig das Herz auszuschütten, weitab im Permafrost der Tundra, um die traumatischen Erfahrungen dem Eis anzuvertrauen, den Krieg zu vergessen und wieder an ihr früheres Leben anknüpfen zu können.
    Er hatte gewartet. Er hatte seinem Bruder aufmunternd zugelächelt, aber sein Lächeln wurde nicht erwidert. Sie begannen zu erzählen, aber die Geschichten verliefen im Sand. Keine Sätze mehr, die man anstelle des anderen beendete. Sie saßen stundenlang in dem düsteren Blockhaus, das sie gemietet hatten, starrten ins Leere, verharrten in endlosem Schweigen.
    Krieg, Tote, gefallene Kameraden, nichts dergleichen wurde erwähnt. Ringsum nur Eis und Schnee. Während sie in der Hütte saßen und die weiße Landschaft mit den Augen absuchten, hörte Joe mit einem Mal ein hartnäckiges Scharren unter der gefrorenen Oberfläche: Lemminge. Nahrung für die Schneeeulen. Es bestand Hoffnung, eine zu Gesicht zu bekommen, aber Damien starrte blicklos vor sich hin, griff weder zum Fernglas noch zu Stift und Skizzenblock. Keine Gespräche, kein Geschichtenerzählen, keine brüderlichen Hänseleien oder Scherze wie früher. Nur das Geräusch der Lemminge, die an der Eisschicht kratzten.
    Weiße Polarfüchse schlichen über die niedrigen Hügel, gruben nach den Lemmingen. Sie trieben ihre Beute durch die unterirdischen Gänge im Schnee, der zu harten Blöcken gefroren war. In jener Nacht hatte Joe einen Alptraum gehabt – er war ein Weißfuchs, machte Jagd auf Beute, die Zuflucht unter dem Eis gesucht hatte, fünfundfünfzig an der Zahl, die starben, ohne jemals wieder Luft zu schöpfen, ohne den Himmel wiederzusehen.
    »Damien«, sagte Joe laut, an die verletzte Schneeeule gewandt, wodurch er vorgeben konnte, dass alles in bester Ordnung war, dass er alles unter Kontrolle hatte. »Tim möchte den Toten ein Denkmal setzen. Das schwebt ihm vor, da bin ich mir sicher. Er hat sich nach meinen Männern erkundigt, nach Johnny und Howie, die am Refuge Beach gestorben sind.«
    Dieser Traum – es waren fünfundfünfzig Menschen gewesen, die in der Falle saßen. Eigentlich siebenundfünfzig, wenn man Johnny und Howie mitrechnete. Was hatte er

Weitere Kostenlose Bücher