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Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)

Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)

Titel: Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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in seinem Traum gemacht – die toten Deutschen gezählt, den Feind, während seine eigenen Leute unberücksichtigt blieben? Der Schnee war das Meer, in dem sich die Toten befanden.
    »Tim wird das vollenden, was unerledigt geblieben ist«, sagte Joe, an die Eule gewandt.
    Damien würde das zu schätzen wissen. Wenn er länger gelebt hätte, wäre er vielleicht noch einmal ins Elsass zurückgekehrt, an den Ort, über dem er mit seiner B-24 abgeschossen worden war. Oder nach Helgoland, auf die Insel in der Nordsee, wo die meisten Mitglieder seiner ersten Staffel den Tod gefunden hatten. Joe dachte an das Blockhaus in der Tundra zurück, wo Damien Stunde um Stunde reglos dagesessen und nur darauf gewartet hatte, eine Schneeeule zu sehen, wortlos, lautlos atmend. Schneehühner und Hasen tauchten vor den weißen Hügeln auf, zeichneten sich deutlich ab, doch Damiens Blick blieb unbewegt: Er wollte nur die Schneeeulen sehen.
    Joe hatte versucht, ihn nach anderen Dingen zu fragen. Nach seinen Einsätzen, seinen Flügen ins deutsche Hinterland, nach den Flugzeugen, die vor seinen Augen in Flammen aufgegangen waren. Sie waren Brüder – zwei irisch-amerikanische, katholische junge Männer, die im Glauben an Gott und an das Gebot der Nächstenliebe aufgewachsen waren. Und beide hatten getötet. Hatten zahllose Menschen auf dem Gewissen.
    War es eine geringere Sünde, jemandem das Leben zu nehmen, wenn es im Namen des Vaterlandes geschah? Es war nicht so, dass der Krieg ungerechtfertigt war, dass sie auf der falschen Seite gekämpft hätten, aber Joe brauchte eine Antwort auf diese Frage. Und er musste wissen, wie Damien darüber dachte.
    Er hatte sich die Reise in die Tundra als eine Art Läuterung der Seele vorgestellt. Sie würden in der Abgeschiedenheit des Blockhauses Dinge zur Sprache bringen, über die sie mit keiner Menschenseele geredet hatten. Sie würden sich gegen-seitig ihre dunkelsten Geheimnisse anvertrauen. Joe würde Damien von dem letzten Lebenszeichen erzählen, von dem niemand auf der Welt erfahren hatte oder erfahren würde, das letzte Lebenszeichen, das von U-823 gekommen war, nach dem Auslaufen des Öls, nachdem die Trümmer und die Mütze des deutschen Kommandanten an die Oberfläche gespült worden waren.
    »Du warst schon immer zartbesaitet«, sagte Joe, an die Eule gewandt. »Ma meinte gleich, du wärst dem Krieg nicht gewachsen, du wärst zu sensibel; ich hielt dich für zäh. Dachte, dass du den Krieg durchstehen würdest. Davon war ich fest überzeugt.«
    In der Tundra hatte Stille geherrscht. Nicht die Ruhe vor der Schlacht, die Joe und Damien gut kannten, sondern eine himmlische Ruhe. Ein Paradies auf Erden, hatte Joe gedacht, alleine mit seinem Bruder, dem Feldstecher und der Hoffnung, Schneeeulen zu sehen. Der Morgen dämmerte sanft über dem Schnee herauf, ähnlich dem Sonnenaufgang am Meer.
    Oh, es war eine gesegnete Tageszeit.
    »So sensibel«, sagte Joe zu der Schneeeule. »Nicht einmal ich konnte ermessen, wie sehr, Damien. Nicht einmal ich. Diese Sonnenaufgänge in der Tundra, wenn wir bei Anbruch des Tages erwachten – du konntest deine Augen kaum öffnen, weil die Tränen während der Nacht an den Wimpern festgefroren waren. Ich fragte mich, ob du es überhaupt verkraften konntest, etwas über dieses letzte Lebenszeichen zu hören, das mir keine Ruhe ließ.«
    Joe schluckte und blickte in die gelben Augen der Eule. Die Tränen seines Bruders in der Morgendämmerung standen in krassem Gegensatz zu seiner eigenen Freude. Der Freude nach jedem Aufwachen, am Leben zu sein, festen Boden unter den Füßen zu spüren, seinen Bruder neben sich zu wissen. Das heraufziehende arktische Licht erinnerte ihn daran, wie er auf der Brücke der James gestanden hatte, wenn die Morgendämmerung den Beginn eines neuen Tages ankündigte, nach einer weiteren Nacht, die sie überlebt hatten – denn die U-Boote griffen bevorzugt im Schutz der Dunkelheit an.
    »Der Duft von Gebackenem«, sagte er zu der Eule. »Aus der Kombüse. Der Duft frischer süßer Brötchen und die sanfte Wärme der aufgehenden Sonne auf meinem Gesicht, der rosafarbene Himmel im Osten; es war wunderbar. Wunderbar. Daran haben mich die Morgendämmerungen in der Arktis erinnert.«
    Die Eule bewegte ihren verletzten Flügel und Joe hörte auf so zu tun, als wären seine Worte an den Vogel statt an Damien gerichtet. An seinen Bruder, seinen geliebten Bruder, eingeschlossen im eigenen Käfig.
    »Ich war unendlich müde«, fuhr er

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