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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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erwartet. Meine Mutter legt sich die Hand auf die Brust. »Oh, Liebes. Was ist denn passiert?«
    Â»Wir haben wohl einfach unterschiedliche Vorstellungen.« Ich fummele an der Kante meiner Decke herum und denke an all die Abende allein mit ihm im Keller, in blaues Licht getaucht, geschützt vor der ganzen Welt. Ich muss nicht sehr übertreiben, um betroffen auszusehen, wenn ich daran denke, und meine Unterlippe fängt an zu zittern. »Ich glaube, er hat mich eigentlich nie so richtig geliebt. Zumindest nicht wirklich.« Das ist das Ehrlichste, was ich seit Jahren zu meiner Mutter gesagt habe, und ich fühle mich plötzlich ganz entblößt. Mir fällt wieder ein, wie ich mit fünf oder sechs vor ihr stand und mich nackt ausziehen musste, während sie mich nach Zecken absuchte. Ich rutsche weiter unter die Decke und balle die Fäuste, bis sich meine Nägel in meine Handflächen bohren.
    Dann passiert etwas total Verrücktes. Meine Mutter überschreitet einfach die abgeblätterte rote Linie und kommt zum Bett herüber, als wäre nichts weiter dabei. Ich bin so überrascht, dass ich noch nicht mal protestiere, als sie sich über mich beugt und mir einen Kuss auf die Stirn drückt.
    Â»Es tut mir so leid, Sam.« Sie streicht mir mit dem Daumen über die Stirn. »Natürlich kannst du heute zu Hause bleiben.«
    Ich hatte mit stärkerem Widerstand gerechnet und bin sprachlos.
    Â»Soll ich auch hierbleiben?«, fragt sie.
    Â»Nein.« Ich versuche sie anzulächeln. »Ich komm schon klar. Echt.«
    Â»Ich will mit Sam zu Hause bleiben!« Izzy steht wieder an der Tür, inzwischen so halb für die Schule angezogen. Sie ist gerade in einer Gelb-Rosa-Phase – nicht unbedingt eine vorteilhafte Kombination, aber es ist ziemlich schwierig, einer Achtjährigen Farbenlehre beizubringen – und trägt ein senfgelbes Kleid über einer rosa Strumpfhose. Außerdem hat sie dicke gelbe Wollsocken an. Sie sieht aus wie eine Tropenblume. Ein Teil von mir ist kurz davor, sich über meine Mutter aufzuregen, dass sie Izzy anziehen lässt, was sie will. Die anderen Kinder müssen sich doch geradezu über sie lustig machen.
    Allerdings glaube ich, dass Izzy das egal ist. Noch etwas, das mir jetzt total komisch vorkommt: dass meine achtjährige Schwester mutiger ist als ich. Sie ist wahrscheinlich mutiger als die meisten an der Thomas-Jefferson-Highschool. Ich frage mich, ob sich das je ändern wird, ob das irgendwann aus ihr rausgeprügelt wird.
    Izzy hat die Augen weit aufgerissen und faltet die Hände, als würde sie beten. »Bitte.«
    Mom seufzt ärgerlich. »Ganz bestimmt nicht, Izzy. Dir fehlt nichts.«
    Â»Mir geht’s nicht gut«, sagt Izzy. Das klingt nicht besonders überzeugend, da sie dabei von einem Fuß auf den anderen hüpft und Pirouetten dreht, aber Izzy war noch nie eine gute Lügnerin.
    Â»Hast du schon gefrühstückt?« Mom verschränkt die Arme und setzt ihr »Strenge Mutter«-Gesicht auf.
    Izzy nickt. »Ich glaube, ich habe mir den Magen verdorben.« Sie beugt sich vor und hält sich den Bauch, dann richtet sie sich umgehend wieder auf und fängt erneut zu hüpfen an. Ich kann mir ein kleines Kichern nicht verkneifen.
    Â»Komm schon, Mom«, sage ich. »Sie kann doch zu Hause bleiben.«
    Â»Sam, bitte ermutige sie nicht noch.« Meine Mutter dreht sich kopfschüttelnd zu mir um, aber ich sehe, wie sie schwankt.
    Â»Sie ist in der dritten Klasse«, sage ich. »Da lernt man doch sowieso nichts.«
    Â»Wooohl!«, kräht Izzy und schlägt sich gleich darauf die Händeüber den Mund, als ich ihr einen warnenden Blick zuwerfe. Meine kleine Schwester hat offenbar auch nicht gerade viel Verhandlungsgeschick. Sie schüttelt den Kopf und stottert schnell: Ȁh, ich meine, so viel eigentlich nicht.«
    Meine Mutter senkt die Stimme. »Du weißt schon, dass sie dich den ganzen Tag nerven wird. Willst du nicht lieber allein sein?«
    Ich weiß, dass sie damit rechnet, dass ich Ja sage. Jahrelang war das das Schlagwort hier im Haus: Sam will allein sein. Willst du Abend essen? Ich nehm’s mit hoch in mein Zimmer. Wo gehst du hin? Ich will allein sein. Kann ich reinkommen? Lass mich in Ruhe. Ich will allein sein. Bleib draußen. Stör mich nicht beim Telefonieren. Stör mich nicht beim Musikhören. Allein, allein,

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