Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
allein.
Manches ändert sich allerdings, wenn man tot ist â vermutlich, weil Sterben die einsamste Tätigkeit der Welt ist.
»Es macht mir nichts aus«, sage ich und meine es auch so. Meine Mutter hebt resigniert die Hände und sagt: »Meinetwegen«, und noch bevor sie es ausgesprochen hat, saust Izzy schon durchs Zimmer und wirft sich auf mich, schlingt mir die Arme um den Hals und kreischt: »Können wir fernsehen? Können wir Käsemakkaroni machen?« Sie riecht wie üblich nach Kokos und ich muss daran denken, wie sie so klein war, dass sie zum Baden ins Waschbecken passte. Da saà sie prustend und lachend und spritzend, als wäre ein 30 à 45 cm groÃes Stück Keramik der beste Ort auf der Welt, als wäre das Waschbecken der gröÃte Ozean der Welt.
Meine Mutter wirft mir einen Blick zu, der besagen soll: Du hast es ja so gewollt.
Ich lächele sie über Izzys Schulter hinweg an und zucke die Achseln.
So einfach ist das.
IM WALD
Komisch, wie stark man sich verändert. Als ich klein war, liebte ich zum Beispiel all das: Pferde, das Schlemmermenü und den Gänsestein. Und mit der Zeit fielen diese Sachen einfach weg, eine nach der anderen, und wurden ersetzt durch Freundinnen und Instant Messaging und Handys und Jungs und Klamotten. Eigentlich schade, wenn man mal darüber nachdenkt. Als gäbe es bei den Menschen keine Kontinuität. Als würde irgendetwas abreiÃen, sobald man zwölf oder dreizehn wird oder ab wann auch immer man kein Kind mehr, sondern ein »junger Erwachsener« ist, und danach ist man ein völlig anderer Mensch. Vielleicht sogar ein unglücklicherer Mensch. Vielleicht sogar ein schlechterer.
So habe ich den Gänsestein entdeckt: Einmal, als Izzy noch nicht geboren war, weigerten sich meine Eltern, mir dieses kleine lila Fahrrad mit einem rosa geblümten Korb und einer Klingel zu kaufen. Ich weià nicht mehr, warum â vielleicht hatte ich schon ein Fahrrad â, aber ich bin ausgerastet und beschloss, abzuhauen. Dies sind die beiden Grundregeln, um erfolgreich abzuhauen:
1.  Geh an irgendeinen Ort, den du kennst.
2.  Geh an irgendeinen Ort, den sonst niemand kennt.
Damals kannte ich diese beiden Regeln natürlich noch nicht und ich glaube, ich hatte es eigentlich genau auf das Gegenteil abgesehen: an irgendeinen Ort zu gehen, den ich noch nicht kannte, um dann von meinen Eltern gefunden zu werden, die so ein schlechtes Gewissen hätten, dass sie mir kaufen würden, was ich wollte, sogar das Fahrrad (und vielleicht ein Pony).
Es war Mai und warm. Jeden Tag war es ein bisschen länger hell. Eines Nachmittags packte ich meine Lieblingstasche und stahl michzur Hintertür hinaus. (Ich weià noch, dass ich mir superschlau vorkam, weil ich den Vorgarten vermied, wo mein Vater gerade mit Gartenarbeit beschäftigt war.) Ich weià auch noch genau, was ich eingepackt habe: eine Taschenlampe, ein Sweatshirt, einen Badeanzug, eine ganze Packung Oreos, mein Lieblingsbuch, Matilda , und eine riesige falsche Perlen-Goldkette, die mir meine Mutter im Jahr davor für Halloween geschenkt hatte. Ich wusste nicht, wo ich hinsollte, also ging ich einfach geradeaus, über die Terrasse, die Treppe runter, durch den Garten, in den Wald, der unser Grundstück von dem der Nachbarn trennt. Ich ging eine Weile durch den Wald, tat mir selber leid und hoffte halb, dass irgendjemand wahnsinnig Reiches mich entdecken, Mitleid mit mir bekommen, mich adoptieren und mir eine ganze Garage voller lila Fahrräder kaufen würde.
Aber nach einer Weile begann mir die Sache irgendwie Spaà zu machen, wie das bei Kindern so ist. Die Sonne war leicht verhangen und golden. Die Blätter sahen alle aus, als hätten sie einen Lichterkranz; überall sausten kleine Vögel herum und unter meinen FüÃen hatte ich dicke Lagen samtgrünes Moos. Die Häuser blieben alle zurück. Ich war ganz tief im Wald und stellte mir vor, ich sei die Einzige, die je so weit gegangen war. Ich stellte mir vor, dass ich für immer hier wohnen würde, ich würde auf einem Bett aus Moos schlafen, Blumen im Haar tragen und in Eintracht mit Bären, Füchsen und Einhörnern leben. Ich kam an einen Fluss, den ich überqueren musste. Ich kletterte auf einen riesig hohen Hügel, der so hoch war wie ein richtiger Berg.
Oben auf dem Hügel war der gröÃte Felsen, den ich je gesehen hatte.
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