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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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enttäuscht. Es war ganz offensichtlich keine gute Idee herzukommen, und mir fällt etwas ein, das Mrs Harbor, meine Englischlehrerin, einmal gesagt hat, als sie mal wieder abgeschweift ist. Wir besprachen gerade eine Liste mit berühmten Zitaten und diskutierten darüber, was sie bedeuteten, und eins davon war »Es führt kein Weg zurück« von Thomas Wolfe. Sie sagte, dass der Grund dafür, dass man nie wieder zurückkehren kann, nicht unbedingt sein muss, dass sich die Orte verändern, sondern die Menschen . Deshalb sieht nie etwas genau so aus wie früher.
    Ich will schon vorschlagen, umzukehren, aber Izzy ist bereits über den Bach gesprungen und flitzt den Hügel hinauf.
    Â»Los, komm!«, ruft sie über die Schulter zurück. Und dann, als sie nur noch fünfzehn Meter vom Gipfel trennen, ruft sie: »Wer zuerst oben ist!«
    Wenigstens ist der Gänsestein selbst so groß, wie ich ihn in Erinnerung habe. Izzy zieht sich auf das flache Plateau hoch und ich klettere hinter ihr her. Meine Finger sind trotz der Handschuhe bereits ganz taub. Die Oberfläche des Felsens ist von brüchigen gefrorenen Blättern und einer Frostschicht bedeckt. Es ist genug Platz, dass wir uns beide ausstrecken können, aber Izzy und ich setzen uns dicht aneinandergekuschelt hin, um uns gegenseitig zu wärmen.
    Â»Und, was meinst du?«, frage ich. »Ist das ein gutes Versteck?«
    Â»Das beste.« Izzy neigt ihren Kopf nach hinten, um mich anzugucken. »Glaubst du wirklich, dass die Zeit hier langsamer läuft?«
    Ich zucke die Achseln. »Als ich klein war, habe ich das geglaubt.« Ich sehe mich um. Ich finde es furchtbar, dass man von hier aus jetzt Häuser sehen kann. Früher war man hier so weit weg, so geheim. »Es war früher ganz anders. Viel besser. Zum Beispiel gab es keine Häuser, und so hatte man wirklich das Gefühl, mitten im Nichts zu sein.«
    Â»Aber so kann man bei einem Haus an die Tür klopfen und fragen, ob man mal aufs Klo darf, wenn man pinkeln muss.« Sie lispelt alle ihre s: zho, Hauzh, aufzh, muzh .
    Ich lache. »Ja, da hast du wohl Recht.« Wir sitzen einen Moment schweigend da. »Izzy?«
    Â»Ja?«
    Â»Machen … machen sich die anderen Kinder manchmal über dich lustig? Darüber, wie du sprichst?«
    Ich spüre, wie sie sich unter ihren vielen Lagen versteift. »Manchmal.«
    Â»Warum tust du dann nicht was dagegen?«, frage ich. »Du könntest doch lernen, anders zu sprechen.«
    Â»Aber das ist doch meine Stimme.« Sie sagt es leise, aber bestimmt. »Woher wüsstet ihr sonst, dass ich es bin, die spricht?«
    Das ist eine so schräge Izzy-Antwort, dass mir nichts dazu einfällt, deshalb strecke ich einfach den Arm aus und drücke sie an mich. Es gibt so viele Sachen, die ich ihr gerne sagen würde, so viele Dinge, die sie nicht weiß: zum Beispiel, dass ich mich daran erinnere, wie sie nach ihrer Geburt aus dem Krankenhaus nach Hause kam, ein dicker rosa Klecks mit einem Dauerlächeln, und wie sie immer einschlief, während sie meinen Zeigefinger umklammert hielt; wie ich sie am Strand von Cape Cod huckepack getragen habe, immer hin und her, und sie mich am Pferdeschwanz zog, um die Richtung zu wechseln; wie weich und flauschig ihr Kopf als Säugling war; dass man beim ersten Kuss aufgeregt ist und dass es sich komisch anfühlt und lange nicht so gut, wie man es sich vorgestellt hat, dass das aber okay ist; dass man sich nur in Leute verlieben soll, die sich auch in einen verlieben. Aber bevor ich irgendetwas davon vorbringen kann, krabbelt sie auf allen vieren von mir weg und quiekt: »Guck mal, Sam!«
    Sie rutscht bis an den Rand und untersucht etwas, das in einer Felsspalte steckt. Dann dreht sie sich auf den Knien um und hält es triumphierend hoch: eine Feder, schmutzig weiß, grau an den Rändern, feucht vom Frost.
    Ich habe das Gefühl, als würde mir in diesem Augenblick das Herz brechen, weil ich weiß, ich werde nichts von dem sagen können, was ich sagen muss. Ich weiß noch nicht mal, wo ich anfangen soll. Stattdessen nehme ich ihr die Feder ab und stecke sie in eine der Reißverschlusstaschen meiner North-Face-Jacke. »Ich heb sie für dich auf«, sage ich. Dann lege ich mich auf den eiskalten Stein und sehe nach oben in den Himmel, der langsam dunkel wird, weil ein Unwetter aufkommt. »Wir sollten bald nach Hause gehen,

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