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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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Umriss eines markanten Kinns, das von der Mattscheibe blau angestrahlt wird. Da fällt mir wieder ein, dass Lindsay gesagt hat, Juliets Vater sei Alkoholiker. Ich erinnere mich ebenfalls dunkel an dieses Gerücht und auch noch an etwas anderes – dass es einen Unfall gegeben hätte und irgendwas mit Halbseitenlähmung oder Tabletten oder so. Ich wünschte, ich hätte besser zugehört.
    Mrs Sykes ertappt mich dabei, wie ich in das Zimmer schaue, geht schnell zur Tür und schließt sie. Jetzt ist es so dunkel, dass ich kaum etwas erkennen kann, und mir wird bewusst, dass mir immer noch kalt ist. Falls hier im Haus die Heizung läuft, merke ich davon nichts. Aus dem Fernsehzimmer höre ich die Geräusche eines Horrorfilm-Schreis und den stetigen abgehackten Rhythmus von Maschinengewehrsalven.
    Jetzt tut es mir wirklich leid, dass ich hergekommen bin. Einen Augenblick lang habe ich diese überdrehte Vorstellung, dass Juliets ganze Familie aus verrückten Serienkillern besteht und dass Mrs Sykes jeden Moment einen auf Das Schweigen der Lämmer machen wird. Ihre ganze Familie ist durchgeknallt , hat Lindsay gesagt. Die Dunkelheit drängt auf mich ein und ich habe das Gefühl zu ersticken. Deshalbschreie ich beinahe erleichtert auf, als Mrs Sykes das Licht anknipst und der Flur erleuchtet wird und ganz normal aussieht, ohne tote Menschentrophäen oder so was. Auf einem kleinen Tisch mit einem Spitzendeckchen steht ein Trockenblumenstrauß neben einem gerahmten Familienfoto, das ich mir gerne näher ansehen würde.
    Â»War die Hausaufgabe denn so wichtig?«, fragt Mrs Sykes und flüstert fast. Sie wirft einen nervösen Blick in Richtung Fernsehzimmer und ich überlege, ob sie Angst hat, zu laut zu sein.
    Â»Ich … ich habe Juliet einfach versprochen, ich würde noch ein bisschen Material für unser Referat am Montag abholen.« Ich gebe mir Mühe, leise zu sprechen, aber trotzdem zuckt sie zusammen. »Ich dachte, Juliet hätte gesagt, sie wäre heute Abend zu Hause.«
    Â»Juliet ist ausgegangen«, sagt sie und wiederholt es dann noch einmal, als wäre sie nicht gewohnt, diese Worte zu sagen, und müsse sie noch mal ausprobieren: »Sie ist ausgegangen. Aber vielleicht hat sie es für dich dagelassen?«
    Â»Ich könnte ja mal danach gucken«, sage ich. Ich möchte ihr Zimmer sehen, mir wird bewusst, dass ich deshalb hergekommen bin. Ich muss es sehen. »Wahrscheinlich hat sie’s einfach auf ihr Bett gelegt oder so.« Ich versuche beiläufig zu klingen, als würden Juliet und ich uns richtig gut verstehen – als käme ich mir nicht komisch vor dabei, an einem Freitagabend um halb elf bei ihr zu Hause reinzuplatzen und zu versuchen, mich in ihr Zimmer zu stehlen.
    Mrs Sykes zögert. »Vielleicht kann ich sie auf dem Handy anrufen«, sagt sie und fügt dann entschuldigend hinzu: »Juliet kann es gar nicht haben, wenn jemand ihr Zimmer betritt.«
    Â»Sie müssen sie nicht anrufen«, sage ich schnell. Juliet wird ihrer Mutter wahrscheinlich sagen, sie soll mir die Bullen auf den Hals hetzen. »So wichtig ist es nicht. Ich komme es morgen abholen.«
    Â»Nein, nein. Ich rufe sie an. Es dauert nur eine Sekunde.« Juliets Mom verschwindet bereits in der Küche. Es ist unglaublich, wie schnell und geräuschlos sie sich bewegt, wie ein Tier, das durch die Schatten gleitet.
    Ich überlege, ob ich abhauen soll, während sie in der Küche ist. Ich denke daran, nach Hause zu fahren, ins Bett zu klettern und alte Filme auf meinem Computer zu gucken. Vielleicht koche ich mir einen Kaffee und bleibe die ganze Nacht auf. Wenn ich nicht einschlafe, muss heute vielleicht zu morgen werden. Ich frage mich träge, wie lange ich wohl ohne Schlaf auskomme, bevor ich durchdrehe, in Unterwäsche die Straße entlangrenne und Halluzinationen von lila Spinnen bekomme.
    Aber stattdessen bleibe ich einfach stehen und warte. Da ich sonst nichts zu tun habe, gehe ich ein paar Schritte und beuge mich vor, um mir das Foto auf dem Tischchen anzusehen. Einen Augenblick bin ich verwirrt: Es ist ein Bild einer unbekannten Frau, wahrscheinlich fünfundzwanzig oder dreißig, die einen gut aussehenden Mann in einem Flanellhemd umarmt. Die Farben des Fotos sind kräftig und wie in Technicolor, und das perfekte Paar sprüht nur so vor Lebensfreude, mit weißen Zähnen, strahlendem Lächeln und

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