Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
bekommt einen Laborpartner zugeteilt.
Das Gesicht von Juliets Schwester entspannt sich ein wenig. »Juliet ist echt gut in Bio. Ich meine, sie ist echt gut in der Schule.« Sie gestattet sich ein Lächeln. »Ich bin Marian.«
»Hallo.« Der Name passt zu ihr: Marian ist irgendwie ein reiner Name. Meine Hände schwitzen. Ich wische sie an meiner Jeans ab. »Ich bin Sam.«
Marian senkt den Blick und sagt schüchtern: »Ich weiÃ, wer du bist.«
Zwei Arme umschlingen meine Taille. Izzy ist hinter mir aufgetaucht. Ihr Kinn bohrt sich in meine Seite.
»Das Eis ist gleich alle«, sagt sie. »Willst du wirklich nichts?«
Marian lächelt Izzy an: »Wie heiÃt du?«
»Elizabeth«, sagt sie stolz, dann sackt sie wieder etwas zusammen. »Aber alle nennen mich Izzy.«
»Als ich klein war, haben mich alle Mary genannt.« Marian verzieht das Gesicht. »Aber jetzt nennt mich jeder Marian.«
»Mich stört Izzy nicht besonders«, sagt Izzy und kaut auf ihrer Lippe, als hätte sie das gerade beschlossen.
Marian sieht zu mir auf. »Du hast also auch eine kleine Schwester, hm?«
Plötzlich kann ich es nicht länger ertragen, sie anzusehen. Ich kann es nicht ertragen, daran zu denken, was später passieren wird. Ich weià es: die Stille im Haus, der Schuss.
Und dann ⦠was dann? Ist sie die Erste, die die Treppe runterkommt? Wird dieses letzte Bild ihrer Schwester das sein, das bleibt, das alle anderen Erinnerungen, die sie im Lauf der Jahre gesammelt hat, auslöscht?
Ich kriege Panik und versuche daran zu denken, was für Erinnerungen Izzy an mich hat â haben wird.
»Komm, Izzy. Lassen wir die Mädchen essen.« Meine Stimme zittert, aber ich glaube nicht, dass es jemand merkt. Ich tätschele Izzy den Kopf und sie trabt zurück zu unserem Tisch.
Die Mädchen am Tisch werden jetzt selbstbewusster. Lächeln, blühen auf und alle bestaunen mich, als könnten sie gar nicht glauben, wie nett ich bin, als würde ich ihnen etwas schenken. Es ist grauenhaft. Sie sollten mich hassen. Wenn sie wüssten, was für ein Mensch ich bin, würden sie mich hassen, davon bin ich überzeugt.
Ich weià nicht, warum mir in diesem Augenblick ausgerechnet Kent einfällt, aber so ist es. Er würde mich auch hassen, wenn er alles wüsste. Die Erkenntnis geht mir eigenartig nahe.
»Sag Juliet, sie soll es nicht tun«, platze ich heraus. Ich kann nicht glauben, dass ich das gesagt habe.
Marian runzelt die Stirn. »Was soll sie nicht tun?«
»Hat was mit unserem Projekt im Labor zu tun«, sage ich schnell und füge dann hinzu: »Sie weià schon, wovon ich rede.«
»Okay.« Marian strahlt mich an. Ich wende mich ab, aber sie ruft mich zurück. »Sam!«
Als ich mich umdrehe, schlägt sie die Hand vor den Mund und kichert, als könnte sie nicht glauben, dass sie sich getraut hat, meinen Namen auszusprechen.
»Ich muss es ihr morgen sagen. Juliet geht heute Abend weg.« Sie sagt das, als würde sie sagen: Juliet hält die Rede bei der Abschlussfeier. Ich kann mir die Szene lebhaft vorstellen. Mom und Dad und Schwester unten, Juliet wie üblich allein in ihrem Zimmer, aus dem Musik dröhnt. Und dann â o Wunder â kommt sie herunter, die Haare zurückgesteckt, selbstbewusst, cool, und verkündet, sie geht zu einer Party. Sie müssen so glücklich, so stolz gewesen sein. Ihr einsames kleines Mädchen hatâs zum Ende der Zwölften endlich doch noch zu etwas gebracht.
Zu Kents Party. Um Lindsay zu finden â und mich. Um geschubst und zum Stolpern gebracht und mit Bier begossen zu werden.
Das Sushi liegt mir plötzlich schwer im Magen. Wenn sie wüssten â¦
»Aber morgen sag ichâs ihr auf jeden Fall.« Marian strahlt mich an, ein Scheinwerfer, der in der Dunkelheit auf mich zusteuert.
Den ganzen Heimweg über versuche ich Marian Sykes zu vergessen. Als Dad mir gute Nacht wünscht â er macht immer schon nach einem Bier schlapp und heute hat er (japs!) zwei getrunken â, versuche ich Marian Sykes zu vergessen. Als Izzy eine halbe Stunde später frisch geduscht und sauber riechend in ihrem verratzten Dora -Schlafanzug reinkommt und mir einen nassen Kuss auf die Wange schmatzt, versuche ich sie zu vergessen; und noch eine Stunde später, als meine Mutter in meiner Tür steht und sagt: »Ich bin
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