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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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hübschen braunen Haaren. Dann sehe ich die Wörter, die unten in der Ecke aufgedruckt sind – ShadowCast Foto KG –, und mir wird klar, dass das gar kein echtes Familienfoto ist. Es ist eins dieser Fotos, die immer in neuen Bilderrahmen stecken, ein glänzendes, fröhliches Werbefoto für all die glänzenden, fröhlichen Momente, die man für immer in diesem 13x18 cm großen Rahmen aus Sterlingsilber mit Schmetterlingsmotiv einfangen kann. Niemand hat sich die Mühe gemacht, es auszutauschen.
    Oder vielleicht haben die Sykes nicht allzu viele glänzende, fröhliche Momente, an die sie sich erinnern wollen.
    Ich wende mich schnell ab und wünschte, ich hätte nicht geguckt. Obwohl es einfach nur ein Foto mit zwei Models ist, habe ich das eigenartige Gefühl, etwas viel zu Persönliches entdeckt zu haben, als hätte ich zufällig einen Blick auf die Innenseite des Oberschenkels von jemandem geworfen oder auf Nasenhaare oder so was.
    Mrs Sykes ist immer noch nicht zurück, deshalb schlendere ich aus dem Flur nach rechts ins Wohnzimmer. Es ist weitgehend dunkel und besteht aus lauter Karos und Spitze und Trockenblumen. Es sieht aus, als wäre es seit den Fünfzigern nicht mehr umdekoriert worden.
    Neben dem Fenster leuchtet eine einzelne trübe Lampe und wirft einen Kreis auf die schwarze Scheibe, in der eine Miniaturversion des Zimmers zu sehen ist.
    Und ein Gesicht.
    Ein schreiendes Gesicht, das sich gegen die Scheibe presst.
    Ich stoße einen spitzen Schrei aus, bevor mir klar wird, dass das auch nur ein Spiegelbild ist. Direkt vor dem Fenster steht eine Maske auf einem Tisch. Ich gehe hinüber und nehme sie vorsichtig von ihrem Ständer. Es ist das Gesicht einer Frau aus Zeitungspapier und roten Stichen, die sich wie fürchterliche Narben im Zickzack über die Haut ziehen. Auf dem Nasenrücken und der Stirn stehen Wörter, einige Schlagzeilen sind – zumindest teilweise – sichtbar, wie »Schönheitsmittel« und »Schicksalsschlag«. Kleine Papierschnipsel lösen sich an verschiedenen Stellen des Gesichts, als würde es sich häuten. Für den Mund und die Augen sind Löcher in die Maske geschnitten, und als ich sie mir vors Gesicht halte, passt sie genau. Mein Spiegelbild im Fenster ist entsetzlich; ich sehe total krankhaft aus oder wie ein Monster aus einem Horrorfilm. Ich kann den Blick nicht abwenden und frage mich, ob Juliet sich so sieht oder ob sie uns so sieht. Vielleicht beides.
    Â»Die hat Juliet gemacht.«
    Beim Klang der Stimme hinter mir zucke ich zusammen. Mrs Sykes ist wiederaufgetaucht und lehnt stirnrunzelnd an der Tür.
    Ich nehme die Maske ab und stelle sie schnell auf ihren Ständer zurück. »Tut mir echt leid. Ich hab sie gesehen und … wollte sie nur mal aufprobieren«, beende ich den Satz wenig überzeugend.
    Mrs Sykes kommt herüber und rückt die Maske zurecht. Sie dreht sie und versichert sich, dass sie gerade steht. »Früher hat Juliet dauernd gezeichnet, irgendwas skizziert oder gemalt oder ihre eigenen Kleider genäht.« Mrs Sykes zuckt mit den Achseln und macht eine nervöse Handbewegung. »Jetzt interessiert sie sich dafür, glaube ich, nicht mehr besonders.«
    Â»Haben Sie mit Juliet gesprochen?«, frage ich nervös und warte darauf, dass sie mich rausschmeißt.
    Mrs Sykes blinzelt mehrmals, als versuchte sie, mich besser zu erkennen. »Juliet …«, wiederholt sie und schüttelt dann den Kopf. »Ich habe sie ein paarmal angerufen. Sie ist nicht rangegangen. Normalerweise geht sie am Wochenende nicht weg …« Mrs Sykes sieht mich hilflos an.
    Â»Bestimmt ist alles in Ordnung mit ihr«, sage ich so fröhlich wie möglich. Jedes Wort bohrt sich wie ein Messer in meine Brust. »Sie hat das Telefon wahrscheinlich einfach nicht gehört.«
    Plötzlich will ich nichts dringender als raus hier. Ich kann es nicht ertragen, Mrs Sykes anzulügen. Sie sieht so traurig aus, wie sie da in ihrem Nachthemd steht, fertig fürs Bett – fast, als würde sie schon schlafen. So fühlt sich das ganze Haus an, als sei es in tiefen Schlaf gehüllt, die Art von Schlaf, die einen erstickt, einen nicht aufwachen lässt, einen zurück in die Laken zwingt und einem das Gefühl gibt zu ertrinken, obwohl man dagegen ankämpft.
    Ich stelle mir vor, wie Juliet im Dunkeln und in der Stille in ihr Zimmer

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