Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
»Wahrscheinlich völlig durchnässt.«
SchlieÃlich leuchten ihre Gesichter auf. »Im Bad«, sagt eine von ihnen und zeigt auf eine kleine Nische direkt neben der Küche. Vor einer verschlossenen Tür steht eine Schlange. Ein Mädchen hat die Beine überkreuzt und hüpft auf und ab. Ein anderes klopft immer wieder an die Tür. Ein drittes zeigt auf die Uhr und sagt etwas, das ich nicht verstehen kann, aber sie sieht sauer aus.
»Sie ist bestimmt seit zwanzig Minuten da drin«, sagt eine Zehntklässlerin. Mein Magen rutscht mir bis in die Kniekehlen und ich muss mich beinahe übergeben.
In Badezimmern gibt es Tabletten. In Badezimmern gibt es Rasierklingen. Leute schlieÃen sich in Badezimmern ein, wenn sie was Ãbles aushecken â Sex haben oder sich übergeben. Oder sich umbringen.
So soll es nicht laufen. Ich soll dich doch retten. Ich bahne mir mit den Ellbogen einen Weg durch die Reihe von Leuten hindurch bis zum Bad.
»Platz da«, sage ich zu Joanne Polerno und sie lässt augenblicklich die Hand sinken und tritt zur Seite.
Ich lege das Ohr an die Tür und lausche auf Geräusche: Weinen oder Würgen oder sonst was. Nichts. Mein Magen sackt noch ein Stückchen weiter ab. Allerdings ist es fast unmöglich, irgendetwas zu hören, weil die Musik so laut wummert.
Ich klopfe leise und rufe: »Juliet? Ist alles in Ordnung?«
»Vielleicht schläft sie«, sagt Rachel Zorf. Ich werfe ihr einen Blick zu, der hoffentlich ausdrückt, wie bescheuert und wenig hilfreich ihr Kommentar ist.
Ich klopfe noch mal und drücke mein Gesicht an die Tür. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ein gedämpftes Stöhnen von innen höre â in diesem Augenblick kreischt die Musik noch lauter und übertönt alles. Aber ich kann mir vorstellen, wie sie mit aufgeschlitzten Pulsadern direkt vor der Tür liegt, überall ist Blut, und langsam das Bewusstsein verliert â¦
»Hol Kent«, sage ich und atme geräuschvoll ein.
»Wen?«, fragt Joanne.
»Ich muss aufs Klo«, sagt Rachel und hüpft auf und ab.
»Kent McFuller. Jetzt. Sofort«, fahre ich Joanne an und sie sieht erschrocken aus, läuft dann aber durch den Flur davon. Jede Sekunde fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Zum ersten Mal verstehe ich wirklich, was Einstein über die Relativität sagt, dass Zeit zusammenschnurren und sich ausdehnen kann wie ein Gummibärchen.
»Was geht dich das eigentlich an?«, knurrt Rachel gerade laut genug, dass ich es hören kann.
Ich antworte nicht. Ich weià die Antwort einfach nicht. Ich muss Juliet retten â das spüre ich. Das ist meine gute Tat. Ich muss mich selbst retten.
Ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher, ob mich das besser macht als jemand, der nichts tut, deshalb schiebe ich den Gedanken weg.
Joanne kommt mit Kent im Schlepptau zurück. Er sieht besorgt aus und seine Stirn unter den zerzausten braunen Haaren, die ihm in die Augen fallen, ist gerunzelt. Mein Herz macht einen Satz. Gestern waren wir zusammen in einem dunklen Zimmer, nicht weiter als fünf Zentimeter voneinander entfernt, so nah, dass ich die unglaubliche Hitze seiner Haut spüren konnte.
»Sam«, sagt er. Er beugt sich vor, um nach meinem Handgelenk zu fassen, und sieht mir dabei tief in die Augen. »Ist alles in Ordnung?«
Die plötzliche Berührung überrascht mich dermaÃen, dass ich meine Hand nur ein winziges Stück zurückziehe, und Kent lässt seine Hand sinken. Ich weià nicht, wie ich das hohle Gefühl erklären soll, das das in meinem Innern hervorruft.
»Mir gehtâs gut«, sage ich und bin mir völlig bewusst, wie lächerlich ich in diesem Augenblick auf ihn wirken muss: mit den strubbeligen Haaren und der Jogginghose. Er sieht dagegen richtig gut aus. Seine karierten Turnschuhe und die weite, runterhängende Kakihose sind irgendwie auf schmuddelige Weise süÃ. Er hat die Ãrmel seines Hemds hochgekrempelt, so dass seine Bräune sichtbar wird, die er Gott weià woher hat. Sicher nicht aus Ridgeview in den letzten sechs Monaten.
Er sieht verwirrt aus. »Joanne hat gesagt, du brauchst mich.«
»Ich brauche dich auch.« Es klingt eigenartig intensiv und ich spüre, wie ich knallrot werde. »Ich meine, ich brauche dich nicht. Ich brauche â¦Â« Ich hole tief Luft. Mir kommt es vor, als funkelte kurz etwas in Kents Blick auf,
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