Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
anfühlt wie ein Tier, das sich einen Weg aus meiner Kehle bahnt.
Und plötzlich bin ich wütend auf Juliet â so wütend, dass ich ihr eine reinhauen könnte. Wieso ist sie auch so selbstsüchtig? Egal, was â egal, wie mies die Dinge für sie laufen â, sie hat die Wahl . Nicht alle von uns haben so viel Glück.
Da höre ich das schönste Geräusch, das ich je in meinen ganzen siebzehn Lebensjahren (plus vier Tage Leben nach dem Tod) gehört habe.
Ich höre ein Hupen.
Das Geräusch ist weit weg und verklingt fast sofort wieder â ein leises Heulen durch die Nacht, als jemand vorbeirast und auf die Hupe drückt. Ich bin näher an der StraÃe, als ich dachte.
Ich rappele mich auf und gehe so schnell ich kann in die Richtung, aus der das Geräusch kam, dabei strecke ich die Arme aus wie eine Mumie, um Zweige und die glatte Berührung der Tannen abzuwehren. Mein Herz klopft aufgeregt und ich lausche angestrengt auf ein Geräusch â irgendein weiteres Geräusch â, an dem ich mich orientieren könnte. Nach einer Minute oder so höre ich wieder ein Hupen, diesmal näher. Ich schluchze beinahe vor Erleichterung. Noch eine Minute und ich höre den dröhnenden Bass einer Stereoanlage, der erst lauter wird und dann wieder leiser, als ein Auto davonbraust. Eine weitere Minute und ich kann das schwache Licht der StraÃenlaternen durch die Bäume leuchten sehen. Da ist die StraÃe!
Als das Licht näher kommt und der Wald weniger dicht wird, kann ich etwas besser sehen und renne los. Ich bin dermaÃen damit beschäftigt, von Riesenstapeln Decken â ich werde alle zusammensammeln, die ich zu Hause finden kann â und heiÃer Schokolade und warmen Hausschuhen und Duschen zu träumen, dass ich Juliet Sykes erst im letzten Moment sehe, als ich beinahe über sie stolpere.
Sie sitzt zwei oder drei Meter neben der StraÃe zusammengekauert, die Arme um die Knie geschlungen. Ihr weiÃes Top ist vom Wasser ganz durchsichtig geworden und ich kann ihren â gestreiften â BH und ihre Wirbelsäule sehen. Ich bin so überrascht, so auf sie zu stoÃen, dass ich einen Augenblick lang vergesse, dass ich nur ihretwegen überhaupt hergekommen bin.
»Was machst du denn hier?«, frage ich laut, um den Regen zu übertönen.
Sie sieht zu mir auf. Die StraÃenlaternen beleuchten ihr Gesicht.Ihre Augen sind ausdruckslos. »Was machst du denn hier?«, wiederholt sie wie ein Papagei.
»Ich, äh, eigentlich such ich dich.« Ihr Gesicht zeigt keine Reaktion â keine Ãberraschung, kein Erschrecken, keine Wut, nichts. Das bringt mich aus dem Konzept. »Ist dir nicht kalt?«
Sie schüttelt kaum wahrnehmbar den Kopf und starrt mich weiter mit diesen ausdruckslosen, müden Augen an. So hatte ich mir das allerdings nicht vorgestellt. Ich dachte, sie würde froh sein, dass ich sie suchen gekommen bin, vielleicht sogar dankbar. Oder vielleicht auch wütend. Auf jeden Fall hätte ich gedacht, dass sie irgendetwas sein würde.
»Hör mal, Juliet â¦Â« Ich klappere so stark mit den Zähnen, dass ich kaum sprechen kann. »Es ist fast ein Uhr morgens und eiskalt hier drauÃen. Willst du vielleicht eine Weile mit zu mir kommen? Zum Reden? Ich weiÃ, was da drin passiert ist« â ich mache eine Kopfbewegung auf Kents Haus zu â, »und es tut mir echt leid.« Ich will sie einfach bloà dazu bringen, in mein verdammtes Auto zu steigen, aber es stimmt, es tut mir wirklich leid.
Juliet starrt mich einen langen, schwer auszuhaltenden Moment an, während der Regen die paar Meter zwischen uns verschwimmen lässt. Sie steht auf und ich bin sicher, dass ich sie überzeugt habe, aber stattdessen wendet sie sich ab und macht einige Schritte auf die StraÃe zu.
»Entschuldige«, sagt sie. Ihre Stimme hört sich aber überhaupt nicht entschuldigend an, sondern ausdruckslos.
Ich fasse nach ihrem Handgelenk. Es fühlt sich winzig an in meiner Hand, wie damals, als ich in der Nähe des Gänsesteins ein kleines Vögelchen gefunden habe, das ich aufhob und das dann dort starb. Es tat seine letzten keuchenden flatternden Atemzüge in meiner Handfläche. Juliet macht sich nicht los, aber sie starrt meine Hand an, als wäre es eine Schlange, die sie gleich beiÃen könnte.
»Hör mal«, versuche ich es
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