Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
Reihe undeutlicher Spuren, die wie vermutet direkt auf den Wald zuführen.
Ich wickele mich fester in mein Sweatshirt und laufe hinter ihr her in den Wald. AuÃer einem kleinen Lichtfleck, der kreisförmig vor mir herhüpft, sehe ich nichts. Ich hatte eigentlich nie Angst im Dunkeln, aber das endlose Knarren und Ãchzen der Bäume und das ständige Gepladder des Regens durch die Ãste klingen, als wäre der Wald lebendig und würde vor sich hin brabbeln wie einer dieser Verrückten in New York, die immer einen Einkaufswagen mit leeren Plastiktüten schieben.
Es hat keinen Zweck zu versuchen, Juliets FuÃabdrücken zu folgen. In der glitschigen Pampe aus verwesenden Blättern, Schlamm und verfaulender Borke sind sie vollkommen unsichtbar. Stattdessen gehe ich in die Richtung, wo ich die StraÃe vermute, in der Hoffnung, sie auf dem Heimweg zu erwischen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das vorhat. Wenn man so verzweifelt von einer Party â und den Leuten dort â wegkommen will, dass man aus dem Fenster klettert, ist es eher unwahrscheinlich, dass man kurz darauf zurückschlendert und jemanden bittet, seinen Honda wegzufahren.
Es fängt wieder stärker zu regnen an und prasselt durch die eisigen Zweige, was klingt wie das Geräusch von Knochen auf Knochen. Meine Brust schmerzt vor Kälte und obwohl ich so schnell gehe, wieich kann, fühlen sich meine Finger taub an und es fällt mir schwer, die Taschenlampe festzuhalten. Ich kann es kaum erwarten, zum Auto zu kommen und die Heizung volle Pulle anzuschalten. Dann fahre ich auf der Suche nach ihr durch die StraÃen. Im schlimmsten Fall fange ich sie zu Hause ab. Wenn ich nur endlich aus diesem ScheiÃwald raus bin.
Ich gehe noch schneller, laufe fast, um warm zu bleiben. Immer wieder rufe ich »Juliet!«, aber ich rechne nicht damit, eine Antwort zu bekommen. Der Regen trommelt noch heftiger und ununterbrochen herab, dicke Tropfen platschen mir in den Nacken und ich schnappe nach Luft.
»Juliet! Juliet!«
Das Trommeln verwandelt sich in Rauschen. Eiswasserdolche durchbohren mich. Ich laufe weiter, die Taschenlampe liegt wie Blei in meiner Hand. Ich spüre meine Zehen nicht mehr. Ich weià noch nicht mal, ob ich überhaupt in die richtige Richtung gehe. Genauso gut könnte ich immer im Kreis rennen.
»Juliet!«
Langsam kriege ich Angst. Ich leuchte mit dem Strahl der Taschenlampe einmal im Kreis: dichte Bäume drängen von allen Seiten auf mich ein. Ich bin mir sicher, dass ich für den Hinweg nicht so lange gebraucht habe. Meine Finger fühlen sich doppelt so groà an wie normal und im Drehen rutscht mir die Taschenlampe aus der Hand. Ich höre ein Krachen und Klirren. Das Licht blitzt noch einmal auf und erstirbt dann und um mich herum ist es pechschwarz.
»ScheiÃe. ScheiÃe. ScheiÃe. ScheiÃe.« Laut fluchen hilft.
Mit ausgestreckten Armen, um nirgendwo gegenzustoÃen, mache ich ein paar zögerliche Schritte auf die Taschenlampe zu. Als ich ein Stück vorwärts geschlurft bin, gehe ich auf die Knie, sofort dringt Nässe in den Stoff meiner Lieblingsjogginghose und ruiniert sie. Ichtaste mit den Händen im Matsch vor mir herum und versuche nicht daran zu denken, worin genau ich da wühle. Regen dringt in meine Augen. Meine Fleecejacke klebt mir am Körper und stinkt nach nassem Hund. Ich zittere heftig. So geht es einem, wenn man versucht, anderen zu helfen. Man ist am Arsch. Ich kriege einen Kloà im Hals.
Um hier nicht total zusammenzubrechen, denke ich daran, was Lindsay wohl sagen würde, wenn sie mit mir mitten in der Nacht mitten im Monsun mitten in einem Wald festsitzen würde, der sich wer weià wie viele Kilometer weit erstreckt, und sähe, wie ich schlammbedeckt in der Erde wühle, als wäre ich ein geistesgestörter Maulwurf.
»Samantha Kingston«, würde sie lächelnd sagen, »ich hab schon immer gewusst, dass du tief drinnen auf schmutzige Sachen stehst.«
Der Gedanke heitert mich nur eine Sekunde lang auf. Lindsay ist nicht hier bei mir. Lindsay knutscht wahrscheinlich gerade in einem kuschelig warmen und sehr trockenen Zimmer mit Patrick oder lässt einen Joint kreisen und fragt Ally, warum ich wohl heute so schräg drauf bin. Ich dagegen habe mich total verirrt, fühle mich total elend und bin absolut und total allein. Der Kloà in meinem Hals wird immer dicker, bis er sich
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