Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
Hände auf ihre Oberschenkel, anmutig, aber entschlossen.
»Du kannst dich bestimmt noch an meinen Spitznamen aus der Fünften erinnern, stimmtâs? Den Spitznamen, den Lindsay mir gegeben hat? Piss-Miss?« Sie schüttelt den Kopf. »Von diesem Spitznamen habe ich geträumt, so oft habe ich ihn gehört. Manchmal habe ich sogar meinen richtigen Namen vergessen.«
Sie dreht sich zu mir um und ihr Gesicht strahlt, glüht beinahe, wunderschön. »Das Lustige daran ist, ich war es gar nicht. Es war Lindsay, die in ihren Schlafsack gepinkelt hat. Am nächsten Morgen stank das ganze Zelt. Aber als Ms Bridges reinkam und fragte, was los sei, zeigte Lindsay einfach mit dem Finger auf mich und kreischte: Sie warâs . Ihren Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen. Sie warâs! Verängstigt. Als wäre ich ein wilder Hund, der sie beiÃen wollte.«
Ich presse mich an die Wand, dankbar, mich irgendwo anlehnen zu können. Das ergibt natürlich Sinn. Alles ergibt jetzt einen Sinn: Lindsays Zorn, die Art, wie sie immer mit ihren Fingern ein Kreuz bildete, um Juliet Sykes abzuwehren. Sie hasst sie nicht. Sie hat Angst vor ihr. Juliet Sykes, die Hüterin von Lindsays ältestem oder vielleicht schlimmstem Geheimnis. Und es kommt mir jetzt alles so absurd vor, der Zufall und das Willkürliche daran. Ein Mensch schieÃt nach oben und der andere trudelt spiralförmig abwärts â willkürlich und bedeutungslos. So einfach, wie am richtigen Ort zu sein oder am falschen oder wie immer man es betrachten will. So einfach, wie eines Tages bei einer Poolparty Lust auf eine Pepsi light zu kriegen und mitgeschwemmt zu werden; so einfach, wie nicht Nein zu sagen.
»Warum hast du nichts gesagt?«, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne. Meine Stimme klingt heiser, so angestrengt versuche ich die Tränen runterzuschlucken.
Juliet zuckt mit den Schultern. »Sie war doch meine beste Freundin, weiÃt du? Sie war damals immer so traurig.« Juliet stöÃt ein Geräusch aus, das genauso gut ein Lachen oder ein Wimmern sein könnte. »Im Ãbrigen«, sagt sie leiser, »dachte ich, es würde vorübergehen.«
»Juliet â¦Â«, hebe ich an.
Sie schüttelt die Schultern, als würde sie ein Gewicht abstreifen: dieses Gespräch, die Vergangenheit, alles. »Es spielt jetzt keine Rolle mehr«, sagt sie schnell und dann macht sie einfach die Tür auf und geht.
»Juliet!«
An der Tür steht ein Riesenhaufen Leute und als ich rauskomme, werde ich kurz zurückgedrückt, weil sich zwei betrunkene Zehntklässlerinnen ums Bad raufen und sich gegenseitig anbrüllen. »Ich war zuerst da!« â »Nein, ich!« â »Du bist doch gerade erst gekommen!« Ein paar Leute werfen mir böse Blicke zu und dann kommt Brianna McGuire mit rot geflecktem und tränenüberströmtem Gesicht an ihnen allen vorbeigestürmt. Als sie mich sieht, ruft sie: »Du â¦Â«, aber sie beendet den Satz nicht, sondern macht einfach einen Bogen um die Zehntklässlerinnen und schlieÃt sich im Bad ein.
»Heilige ScheiÃe, nicht schon wieder«, ruft jemand.
»Ich mach mir gleich in die Hose«, jammert eine der Zehntklässlerinnen, kreuzt die Beine und hüpft auf und ab.
Alex Liment kommt hinter Brianna her. Er drängt sich zur Badezimmertür durch, klopft dagegen und ruft Brianna zu, sie soll rauskommen. Ich hab mich immer noch nicht von der Stelle gerührt. Ich stehe an die Wand gepresst da, eingeklemmt zwischen den ganzen Leuten, gelähmt davon, wie verkehrt alles ist. Mir fällt etwas ein, was ich mal übers Ertrinken gehört habe: Wenn man in kaltes Wasser fällt, ertrinkt man nicht sofort, sondern die Kälte raubt einem die Orientierung und lässt einen glauben, unten ist oben und oben unten, das heiÃt, man schwimmt vielleicht und schwimmt und schwimmt um sein Leben in die falsche Richtung, immer zum Grund hinab, bis man sinkt. So fühle ich mich â als ob alles auf dem Kopf stünde.
»Du bist echt unglaublich.«
Mir wird plötzlich bewusst, dass Alex mit mir redet. Er hat die Zähne gefletscht.
»WeiÃt du, was du bist?« Er stützt sich rechts und links von meinem Kopf mit den Händen an die Wand, so dass ich eingeklemmt bin. Ich kann Schweià auf seiner Stirn erkennen und sein Atem riecht nach Gras und Bier. »Samantha
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