Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
ich könnte ihre Erinnerungen betreten und sehen, was sie sieht, reparieren, was immer dort zerbrochen ist. »Sie fing wieder an ins Bett zu machen, weiÃt du? Weil das mit ihren Eltern so schrecklich war. Es war ihr natürlich total peinlich. Sie verpflichtete mich zum Schweigen â sie sagte, sie würde nie wieder ein Wort mit mir wechseln, wenn ich es irgendjemandem erzählte. Wir wachten morgens auf und einige der Kissen in der Festung waren nass. Ich tat so, als merkte ich nichts. Eines Morgens ging ich ins Bad, um mir die Zähne zu putzen, und sie saà in der Wanne und schrubbte ein Kissen mit so viel Bleichmittel, dass mir die Augen brannten. Sie schrubbte bestimmt schon seit einer halben Stunde. Das Kissen war mit weiÃen Flecken übersät und komplett hinüber und ihre Finger waren wund und rot. Sie waren fast verätzt. Aber es war, als könnte sie nichts sehen. Sie wollte einfach, dass es sauber wurde.«
Ich schlieÃe die Augen und spüre, wie der Boden unter meinen FüÃen schwankt. Mir fällt ein, wie ich bei Rosalitaâs aufs Klo komme und Lindsay da knien sehe und die Essensbrocken in der Kloschüssel. Die Mischung aus Scham und Wut und Auflehnung in ihrem Gesicht.
»Einmal haben sich ihre Eltern so heftig gestritten, dass wir sogar von zu Hause abgehauen sind. Wir waren erst sieben oder acht, aber wir liefen den ganzen Weg bis zu mir. Es war März und ziemlich kalt. Lindsay sollte bei mir einziehen. Ich würde es niemandem sagen, sondern sie einfach verstecken und ihr was zu essen bringen. Sie wollte vor allem Gummibärchen und Snickers. Damals liebte sie Schokolade und Bonbons. Eigentlich alles SüÃe.«
Unwillkürlich stoÃe ich einen kleinen erstickten Laut aus. Ich weià nicht, ob ich es ertragen kann, noch mehr zu hören. Ich habe das Gefühl, das ist es jetzt: dieses Bad, diese Geschichte. Das ist der Schlüssel zu allem, der Anfang und das Ende.
Aber Juliet fährt in diesem seltsamen bedächtigen Tonfall fort, als hätten wir alle Zeit der Welt. »Es hat natürlich nicht geklappt. Wir schafften es zwar die Treppe hoch und bis in mein Zimmer, aber dann fingen wir an uns zu streiten, wer in dem schmalen Klappbett schlafen und wer das groÃe kriegen sollte, und meine Mutter hörte uns. Sie war entsetzt, dass wir den ganzen Weg hergelaufen waren. Sie schrie undheulte, dass man uns hätte entführen oder umbringen oder sonst was können. Ich weià noch, dass es mir wirklich peinlich war.« Juliet dreht ihre Hände nach oben und starrt die Handflächen an. »Es war jedoch kein Vergleich mit Lindsays Ausraster, als meine Mutter sagte, sie müsse zurück nach Hause. Ich habe noch nie jemanden so laut schreien hören. Meine Mutter musste sie geradezu ins Auto tragen. Danach schlief Lindsay dann nur noch bei uns. Meine Mutter wollte nicht, dass ich dort war, weiÃt du?«
Sie schweigt so lange, dass ich schon denke, sie ist fertig. Ihre Wörter summen in meinem Kopf weiter, sausen herum und ordnen sich selbst zu Lösungen in einem Kreuzworträtsel an. So war sie immer, weiÃt du, versuchte immer das Beste aus allem zu machen ⦠Sie schrubbte bestimmt schon seit einer halben Stunde ⦠Ihre Finger waren wund und rot. Ich habe das Gefühl, kurz davor zu sein, etwas zu verstehen, von dem ich mir nicht sicher bin, ob ich es wirklich wissen will. Der Raum kommt mir winzig und stickig vor. Auf meiner Brust liegt ein erdrückendes Gewicht. Ich bin versucht, einfach abzuhauen, an ihr vorbei auf die Party zu rennen, mir ein Bier zu holen und Juliet zu vergessen, alles zu vergessen. Aber ich bin da, wo ich stehe, festgewachsen. Ich kann mich gar nicht bewegen. Die endlose Dunkelheit meines Traums steigt immer wieder vor mir auf. Dahin kann ich nicht zurück.
»Eigentlich komisch, wenn man mal darüber nachdenkt«, sagt Juliet. »Wir haben alles zusammen gemacht, Lindsay und ich. Wir waren sogar zusammen bei den Pfadfinderinnen. Es war ihre Idee. Ich hatte an sich keine groÃe Lust dazu â Kekse und Lagerfeuer und der ganze Kram. Am Anfang der fünften Klasse gingen wir auf eine Campingtour. Wir schliefen natürlich im selben Zelt.«
Ich betrachte Juliets Hände. Sie zittern so leicht und so schnell, dass man es kaum sieht, wie die Flügel eines Kolibris. Aus den Augenwinkeln ertappt mich Juliet dabei, wie ich sie beobachte, und sie legt die
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