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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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und Berührung.

SIEBEN
    Beim letzten Mal geht der Traum so: Ich falle, stürze durch die Luft, aber diesmal ist die Dunkelheit um mich herum lebendig, voller pulsierender Dinge, und mir wird bewusst, dass ich nicht von Dunkelheit umgeben bin, sondern nur die ganze Zeit die Augen zuhatte. Ich komme mir blöd vor und öffne sie, und gleichzeitig fliegen hunderttausend Schmetterlinge um mich herum auf, so viele in so vielen leuchtenden Farben, dass sie aussehen wie ein Regenbogen, der vorübergehend die Sonne verdunkelt. Aber sie flattern immer höher und geben den Blick auf eine Landschaft unter uns frei, lauter grüne und goldene und sonnenbeschienene Felder und rosa getönte Wolken, die unter mir vorbeiziehen, und die Luft um mich herum ist klar und blau und duftet, und ich lache und lache und lache, während ich durch die Luft wirbele, denn ich bin die ganze Zeit über natürlich nicht gefallen.
    Ich bin geflogen.
    Und das Aufwachen ist diesmal wunderbar, als wäre ich sanft an ein ruhiges, friedliches Ufer getragen worden, und der Traum und seine Bedeutung sind wie eine Welle über mich hinweggespült, ziehen sich jetzt zurück und lassen mich mit einer einzelnen, sicheren Gewissheit zurück. Ich weiß es jetzt.
    Es ging nie darum, mein Leben zu retten.
    Zumindest nicht so, wie ich dachte.
    UND AM SIEBENTEN TAGE
    Ich weiß noch, wie ich einmal mit Lindsay so einen alten Film geguckt habe; darin redete die Hauptfigur davon, wie schade es ist, dass man beim letzten Mal, wenn man Sex hat, nicht weiß, dass es das letzte Mal ist. Da es in meinem Fall gar kein erstes Mal gab, bin ich nicht gerade eine Expertin auf diesem Gebiet, aber ich nehme mal an, das Gleiche gilt für die meisten Dinge im Leben – den letzten Kuss, das letzte Lachen, die letzte Tasse Kaffee, den letzten Sonnenuntergang, das letzte Mal, dass man unter einem Rasensprenger durchläuft oder ein Eis isst oder die Zunge rausstreckt, um damit eine Schneeflocke zu fangen. Man weiß es einfach nicht.
    Aber ich glaube eigentlich, dass das gut ist, denn wenn man es wüsste, wäre es fast unmöglich, loszulassen. Wenn man es weiß, ist es, als müsste man von einer Klippe springen: Man will nichts lieber als sich hinknien und den festen Boden küssen, an ihm riechen, sich daran festhalten.
    Ich schätze mal, so ist Abschiednehmen immer – wie der Sprung von einer Klippe. Das Schlimmste ist, sich dazu durchzuringen. Sobald man in der Luft ist, kann man nichts weiter tun als loslassen.
    Das ist das Letzte, was ich zu meinen Eltern sage: Bis später . Vorher habe ich auch gesagt: Ich hab euch lieb , aber das Letzte, was ich sage, ist: Bis später.
    Um ganz genau zu sein, ist das Letzte, was ich zu meinem Vater sage: Bis später . Zu meiner Mutter sage ich: Wirklich nicht , weil sie mit strubbeligen Haaren und verrutschtem Bademantel, die Zeitung in der Hand, in der Küchentür steht und mich fragt: Willst du wirklich nichts frühstücken? Wie immer.
    An der Haustür drehe ich mich um. Hinter mir summt mein Vater am Herd vor sich hin und verbrennt Spiegeleier für meine Mutter. Er trägt die gestreifte Schlafanzughose, die Izzy und ich ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt haben, und seine Haare stehen ganz komisch vom Kopf ab, als hätte er gerade den Finger in eine Steckdose gesteckt. Meine Mutter legt ihm eine Hand auf den Rücken, als sie sich an ihm vorbeiquetscht, dann setzt sie sich an den Küchentisch und faltet die Zeitung auseinander. Er bugsiert die Spiegeleier auf einen Teller und stellt ihn vor ihr ab, wobei er sagt: »Voilà, Madame. Extra knusprig«, und sie schüttelt den Kopf und sagt etwas, das ich nicht verstehen kann, aber sie lächelt dabei und er beugt sich runter und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn.
    Das ist ein schöner Anblick. Ich bin froh, dass ich hingesehen habe.
    Izzy kommt mit meinen Handschuhen hinter mir her an die Tür. Sie grinst, wobei die Lücke zwischen ihren beiden Vorderzähnen zum Vorschein kommt. Bei ihrem Anblick überwältigt mich ein Schwindelgefühl, Übelkeit steigt in mir auf, aber ich hole tief Luft und denke ans Schrittezählen, ans Anlaufnehmen und an meinen Traum vom Fliegen.
    Eins, zwei, drei, los.
    Â»Du hast deine Handschuhe vergessen.« Lispeln, Lächeln, goldene Haarsträhnen.
    Â»Was würde ich nur ohne dich machen?« Ich gehe in die Hocke und nehme sie in den

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