Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Arm, während ich unser gemeinsames Leben vor mir sehe: ihre winzigen Babyzehen und ihre Kopfhaut, die nach Babypuder roch; das erste Mal, dass sie auf mich zugewankt kam; das erste Mal, dass sie Fahrrad fuhr und hinfiel und sich das Knie aufschlug, und als ich das ganze Blut an ihr sah, bin ich beinahe vor Angst gestorbenund habe sie den ganzen Weg nach Hause getragen. Und darüber hinaus kann ich eigenartigerweise Augenblicke ihrer Zukunkft sehen: eine hoch aufgeschossene und hübsche Izzy lachend mit einer Hand am Lenkrad; Izzy in einem langen grünen Kleid, wie sie auf dem Weg zum Abschlussball mit hohen Absätzen auf einen wartenden Wagen zustöckelt; Izzy, die mit Büchern beladen auf der Suche nach Schutz vor dem Schnee ins Studentenwohnheim huscht, ihre Haare eine goldene Flamme vor dem Weiß.
    Sie quiekt und macht sich los. »Ich krieg keine Luft. Du zerquetschst mich.«
    Â»Entschuldige, Izzy.« Ich fasse in meinen Nacken und öffne die Vogelkette meiner Oma. Izzy bekommt große, runde Augen.
    Â»Dreh dich um«, sage ich und ausnahmsweise ist sie mucksmäuschenstill und tut klaglos, was ich ihr sage. Sie steht unbeweglich da, während ich ihre Haare anhebe und ihr die Kette um den Hals lege. Dann dreht sie sich mit ernstem Gesicht zu mir um und wartet auf meine Meinung.
    Ich ziehe an der Kette. Der Anhänger rutscht bis in die Mitte ihrer Brust und bleibt direkt neben ihrem Herzen hängen. »Steht dir gut.«
    Â»Schenkst du mir die – ganz in echt? Oder nur für heute?« Ihre Stimme ist ganz leise, als würden wir Staatsgeheimnisse besprechen.
    Â»Sie steht dir sowieso besser.« Ich stupse ihr mit dem Finger auf die Nase und sie wirbelt mit erhobenen Händen wie eine Ballerina herum.
    Â»Danke, Sammy!« Nur dass es natürlich klingt wie Zhammy .
    Â»Sei ein gutes Mädchen, Izzy.« Mit einem Kloß im Hals und Schmerzen im ganzen Körper stehe ich auf. Ich muss den Drang, mich wieder hinzuknien und sie noch mal an mich zu drücken, niederringen.
    Gespielt beleidigt stemmt sie die Hände in die Hüften wie Mom immer und reckt die Nase hoch. »Ich bin immer gut. Ich bin die Beste.«
    Â»Die Allerbeste.«
    Sie hat sich schon umgedreht, rennt und schlittert auf ihren Pantoffelfüßen zurück in die Küche und schreit: »Guckt mal, was Sam mir geschenkt hat!«, eine Hand um den Anhänger geschlossen. Tränen verschwimmen vor meinen Augen, daher kann ich sie nicht deutlich sehen, nur das Rosa ihres Schlafanzugs und das leuchtende Gold ihrer Haare.
    Draußen brennt mir die Kälte in den Lungen und verschlimmert den Schmerz in meiner Kehle. Ich hole tief Luft und atme den Geruch nach Holzfeuer und Benzin ein. Die Sonne sieht schön aus, sie liegt lang und niedrig über dem Horizont, als rekelte sie sich, als erwachte sie aus einem Nickerchen, und ich weiß, unter diesem fahlen Winterlicht liegt das Versprechen von Tagen, an denen es bis acht Uhr abends hell ist, und von Poolpartys und Chlorgeruch und gegrillten Hamburgern; und darunter liegt das Versprechen von Bäumen, die rot und orange leuchten wie Flammen und Glühwein, und Frost, der bis mittags geschmolzen ist – Schichten um Schichten Leben, immer noch mehr, neuer, tiefer. Am liebsten würde ich weinen, aber Lindsay hat schon vor dem Haus geparkt, winkt und schreit: »Was ist los?«, also gehe ich stattdessen einfach weiter, setze einen Fuß vor den anderen, eins, zwei, drei, und denke daran, loszulassen – die Bäume, das Gras, den Himmel und die rot gestreiften Wolken am Horizont –, lasse es alles von mir abfallen wie einen Schleier. Vielleicht liegt etwas Großartiges darunter.
    EIN WUNDER AUS ZUFALL UND FÜGUNG,
TEIL 1
    Â»Und ich also, hör mal, ist mir egal, dass das blöd ist, ist mir egal, dass das ein Feiertag ist, den sich bloß die Blumenläden ausgedacht haben oder was …« Lindsay quasselt über Patrick und unterstreicht ihre Geschichte mit Schlägen des Handballens aufs Lenkrad. Sie hat sich wieder völlig unter Kontrolle, die Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, der genau so verstrubbelt ist, wie er sein soll, Lipgloss auf den Lippen, und an ihrer voluminösen Jacke hängt ein Hauch Burberry Brit Gold . Es ist irgendwie komisch, sie nach gestern Nacht so zu sehen, aber gleichzeitig bin ich froh. Sie ist grausam und verängstigt und stolz und unsicher,